Herr Baumann und Herr Zander
oder
Der Einbrecher


"Das ist mir doch noch nie passiert, dass ich um vier Uhr früh im Dunkeln zu Fuß durch die Straßen der Stadt gehen muss," murmelte Herr Baumann leise vor sich hin.

Er war am Tage zuvor bei guten Freunden zum Abendessen eingeladen worden. Danach hatte man noch Musik gehört und war schließlich in solch ein anregendes und interessantes Plaudern und Diskutieren gekommen, dass alle Anwesenden Raum und Zeit vergaßen. Als schließlich jemand auf die Uhr schaute, stellte sich heraus, dass es bereits kurz vor vier Uhr in der Früh war.

Herr Baumann brach sofort auf, setzte sich in seinen Wagen und fuhr los. Aber nach einigen Kilometern blieb der Wagen plötzlich stehen. Herr Baumann stellte fest, dass er zu tanken vergessen hatte. Das Benzin war zu Ende gegangen. Wohl oder übel musst er den Wagen am Straßenrand stehen lassen und zu Fuß nach Hause gehen.
Glücklicherweise waren es auch zu Fuß nur noch knapp zehn Minuten bis zu seiner Wohnung, besonders, wenn er die Abkürzung durch die Beethovenstraße nahm, die für den Durchgangsverkehr gesperrt war. Die Beethovenstraße war nur eine relativ kurze Straße im besten Viertel der Stadt. Rechts und links wurde sie von meist altehrwürdigen und auch von einigen modernen Villen gesäumt. Um diese Zeit, es war noch nachtdunkel, wirkte alles einsam und verlassen. In den Villen brannte kein Licht und die Straßenlaternen, die ziemlich weit auseinander standen, spendeten nur spärliches Licht. Hinzu kam, dass es eine neblige Novembernacht war und das Licht nur zögernd durch die Dunkelheit brach. Herr Baumann ging mit leichten aber schnellen Schritten und befand sich im letzten Drittel der Straße, als er plötzlich einen harten Schlag, ein helles Klirren und schließlich ein Geräusch vernahm, als wenn Glas zu Boden fällt. 
Er blieb ruckartig stehen. Das Geräusch musste von der Villa gekommen sein, an der er gerade vorüberging: Einbrecher, fuhr es ihm durch den Sinn. Was nun geschah, erfolgte fast reflexartig. Herr Baumann ging zum schmiedeeisernen Gartentor und bemerkte, dass es nur angelehnt war. Dann schaute er zu der Villa hin und sah, dass in einem Zimmer im Erdgeschoss ein schwacher Lichtstrahl über die Wände husch­te. Ohne Zweifel, da waren Einbrecher am Werk. Er sah auch, dass ein Fensterflügel halb offen stand und das Glas darin zertrümmert war.
Herr Baumann überquerte mit leichten, langen Schritten den kurzgeschnittenen Rasen, der sich vor de Villa befand und lief auf das Haus zu, seitlich vom eingeschlagenen Fenster. Als er dort angekommen war, bemerkte er, dass neben dem Fenster ein mannshoher, immergrüner Strauch stand, hinter den er sich stellte.
Erst jetzt wurde ihm bewusst, was er getan hatte. Er hatte sich in eine nicht zu unterschätzende Gefahr begeben. Er wusste nicht einmal, ob hier ein oder mehrere Einbrecher in das Haus eingedrungen waren. 
Und dass Einbrecher nicht selten bewaffnet sind, wurde ihm in diesem Moment auch klar.

Bevor er aber überlegen konnte, wie er weiter reagieren soll­te, wurde der angelehnte Fensterflügel ganz geöffnet und ein Mann sprang über die Fensterbrüstung auf den Gartenboden. Er stand mit dem Rücken zu dem Strauch, hinter dem Herr Baumann Stellung bezogen hatte. Dieser nahm allen Mut zusammen und rief mit schneidender Stimme: "Polizei, Hände hoch und rühren sie sich nicht vom Fleck." Der Einbrecher schrak bei dem Anruf sichtlich zusammen, hob beide Hände hoch und blieb wie angewurzelt stehen. Obschon es ziemlich dunkel war, konnte Herr Baumann im Gegenlicht der Straßenlaterne erkennen, dass der Einbrecher in der rechten erhobenen Hand einen Revolver hielt.
"Schmeißen sie sofort die Waffe hinter sich, drehen sie sich nicht um und nehmen sie sofort die Hand wieder hoch." Auch diesem Befehl kam der Einbrecher sofort nach. Herr Baumann hob den Revolver auf, drückte ihn dem Mann ins Kreuz und befahl: "Gehen sie jetzt langsam zur Straße hinunter" 
Auch dieser Aufforderung folgte der Mann sofort. Herr Baumann ließ ihn bis unter die Straßenlaterne gehen und herrschte ihn dann an: "Bleiben sie stehen, drehen sie sich um und behalten sie ihre Hände oben."
Der Mann drehte nun Herrn Baumann das Gesicht zu und seine Gestalt wurde voll vom Licht der Laterne getroffen. Herr Baumann sah, dass es sich um einen jungen Mann han­delte, er schätzte ihn auf etwa 25 Jahre. Er war mittelgroß, eher schmächtig , hatte ein feingeschnittenes Gesicht und wirkte auf den ersten Blick sympathisch. Herr Baumann war ein athletischer Mann und überragte den Einbrecher um Haupteslänge.

Sieht gar nicht wie ein Einbrecher aus, fuhr es ihm durch den Sinn, war sich aber sofort des Unsinnigen dieses Gedankens bewusst. Natürlich wusste er, dass Einbrecher keine besondere Physiognomie haben.
Auch der junge Mann hatte Herrn Baumann aufmerksam betrachtet und sprach jetzt zum erstenmal, Herrn Baumann fest anblickend: "Wenn sie keine andere Waffe haben als die, die sie mir abgenommen haben, dann stecken sie sie ruhig weg, es ist nämlich eine Spielzeugpistole und von der Polizei sind sie ja wohl auch nicht." 
Herr Baumann glaubte zunächst an einen Trick, der ihn ab­lenken sollte, deshalb betrachtete er den Revolver nicht nä­her, betastete ihn aber mit beiden Händen und stellte fest, dass der junge Mann nicht geblufft hatte. Es war tatsächlich eine Spielzeugwaffe. Mit einer lässigen Bewegung steckte er das Ding in seine Tasche. "Glauben sie ja nicht, dass sie mir deshalb entwischen können, ich werde ihnen nachstellen und ich glaube, wenn ich auch älter bin als sie, dass ich ihnen noch überlegen bin."
"Was haben sie denn jetzt mit mir vor?" fragte der junge Mann verschüchtert und ängstlich.
"Was soll ich mit ihnen schon vorhaben, was macht man mit einem Dieb, man liefert ihn der Polizei aus, das ist doch wohl klar."
Der junge Mann zuckte zusammen und sagte schließlich:
"Aber eigentlich bin ich gar kein Dieb."
"Ach, sie brechen bei Nacht und Nebel in eine Villa ein, aber ein Dieb sind sie nicht?" 
Herr Baumann fragte das mit einem ironisch-ärgerlichen Unterton in der Stimme. "Und warum sind sie kein Dieb, können sie mir das näher erklären?"
"Weil ich nichts aus dem Haus mitgenommen habe."
Tatsächlich stellte Herr Baumann fest, der junge Mann hatte nichts bei sich, was auf eine Beute schließen ließ.
"Und warum sind sie dann überhaupt in das Haus eingedrungen?" wollte er wissen.
"Das ist eine lange Geschichte," erklärte sein Gegenüber. "Es ging für mich um Leben und Tod. Aber wissen sie, ich habe in meinem ganzen Leben noch nie gestohlen, nicht einmal einen Pfennig oder eine Stecknadel und als ich in dem Zimmer stand, habe ich solche Gewissensbisse bekommen, dass ich unverrichteter Dinge wieder abgezogen bin."
"Na," sagte Herr Baumann, der recht misstrauisch zugehört hatte, "das hört sich ja sehr phantastisch an. Aber ich denke, wir sollten das Gespräch hier in der Nacht auf der Straße beenden. Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Sie machen keinen Versuch zu entweichen und wir gehen die knapp zehn Minuten zu meiner Wohnung und dort können sie mir in Ruhe ihre Story erzählen. Danach können wir immer noch entscheiden, was mit ihnen geschehen soll."
In der Wohnung angekommen, eröffnete Herr Baumann das Gespräch. "Damit sie wissen, mit wem sie es zu tun haben, ich heiße Berthold Baumann, bin 38 Jahre alt, ledig, in der Versicherungsbranche tätig. Und nun erzählen sie einmal von sich."

"Ich heiße Bernhard Zander, bin 25 Jahre alt, verheiratet. Habe ein Kind, eine Tochter, 3 Jahre alt, die kleine Sabine. Meine Frau hat vor einem Dreivierteljahr mich und das Kind verlassen. Seitdem ist eine alte Tante zu uns gezogen, die das Kind, mein Sabinchen, betreut. Und wegen meines Kindes ist der Einbruch überhaupt erfolgt. Vielleicht halten sie das, was ich ihnen jetzt erzähle, für eine unglaubliche Geschichte, aber wenn ihnen daran gelegen ist, können sie alles in den näch­sten Tagen überprüfen.
Das Kind wurde mit einem schweren Herzfehler geboren. Es hat ein Loch im Herzen. Ich bin dankbar, dass es überhaupt drei Jahre alt geworden ist. Aber die Ärzte geben dem Kind höchstens noch ein halbes Jahr Lebenszeit, wenn es nicht innerhalb der nächsten Woche operiert wird. Und hier liegt das große Problem. Die Operation kann nur in einer Spezialklinik in den USA durchgeführt werden. Ich habe mich gründlich erkundigt. Alles in allem kostet die Operation 15 000 DM. Die Krankenkasse übernimmt die Kosten für eine Operation in Übersee nicht. 
Ich habe versucht, ein Darlehn aufzunehmen. Aber als wir vor vier Jahren geheiratet haben, hatten wir beide nichts. Wir haben deshalb damals ein hohes Darlehn aufgenommen, um uns gut einrichten zu können. Davon haben wir noch nicht viel abgezahlt. Und durch die Trennung von meiner Frau bin ich sogar mit der Zahlung in Rückstand geraten, und keine Bank ist bereit, mir eine weite­res Darlehn zu gewähren. So hatte ich den Eindruck, vom Schicksal genug bestraft zu sein und das Recht zu haben, mir selbst zu helfen, ganz gleich wie." 
An dieser Stelle stockte Herr Zander und Herr Baumann, der interessiert zugehört hatte, bekam mehr und mehr das Empfinden, dass der Mann die Wahrheit sagte.
"Erzählen sie weiter," drängte er.
"Ja, und dann kam die Idee mit dem Einbruch," fuhr Herr Zander mit niedergeschlagenen Augen fort.
"Aber warum brechen sie gerade in diese Villa ein. Glaubten sie wirklich, dass ihnen dort 15000 DM in die Hände fallen würden?"
"Das hat seine besonderer Bewandtnis, das muss ich ihnen näher erklären. Ich habe ihnen noch nicht gesagt, dass ich Elektrotechniker und bei der Post angestellt bin, und zwar im Telefon Reparaturdienst. Am Montag wurde ich in die Villa Brekelmann gerufen. Brekelmann sind die Besitzer der Villa und haben in dem Haus neben ihrer Wohnung auch ihr Maklerbüro untergebracht, in dem sich eine komplizierte Telefonanlage befindet. Diese war gestört und ich kam, um sie zu reparieren. Als ich die Leitungen überprüfte, wurde ich ungewollt Mithörer eines Telefongesprächs, das Herr Brekelmann mit seiner Frau führte. Es hatte ungefähr folgen­den Inhalt. Herr Brekelmann erklärte seiner Frau. dass er erst am Donnerstag im Laufe des Tages nach Hause kommen könne, er befand sich wohl auf einer Geschäftsreise. Es habe sich aber so ergeben, dass ein Kunde, der ein Grundstück kaufen wollte, 20 000 DM in bar bis Mittwoch im Büro hinterlegen müsse.

Sie, Frau Brekelmann, solle das Geld in Empfang nehmen. Der Kunde könne aber erst nach 18 Uhr kommen, so dass die Banken schon geschlossen haben. Sie möge dann aber am nächsten Morgen das Geld sofort zur Bank bringen.
Frau Brekelmann erklärte daraufhin, dass sie am Mittwoch gegen 20 Uhr zu ihrer Mutter fahre, die erkrankt sei, und übers Wochenende dort bleibe. Sie könne das Geld deshalb wohl in Empfang nehmen, aber nicht zur Bank bringen. Herr Brekelmann überlegte hier einen Augenblick und ich wollte mich schon aus dem Gespräch ausschalten, aber ich brachte es in diesem Augenblick nicht fertig und so hörte ich auch noch den entscheidenden Rest des Gesprächs. 
Dann, erklärte Herr Brekelmann seiner Frau, schließe das Geld solange weg. Er sagte wörtlich: In den großen Tresor kannst du es ja nicht deponieren, da ich den Schlüssel mitgenommen habe. Lege es deshalb für die eine Nacht in den kleinen Tresor hinter dem Spitzweg Bild und lege den Schlüssel wie immer in die kleine Vase auf dem Kaminsims. Dort ist das Geld sicher für die eine Nacht und am Donnerstag, wenn ich zurück bin, bringe ich das Geld sofort zur Bank. Na, sagte Herr Brekelmann noch. Es wird ja nicht gerade in dieser Nacht ein Einbrecher kommen und außerdem weiß ja niemand von dem Geld und dem Tresor!"

Herr Zander machte an dieser Stelle eine kleine Pause. Es war ihm nicht leicht gefallen,, einem fremden Menschen dies alles anzuvertrauen. 
Er seufzte ein paar mal tief und fuhr dann fort: "Ja, dann kam die Idee mit dem Einbruch. Ich sah nur noch mein todkrankes Kind vor mir und dort, dachte ich verbittert, liegen 20 000 DM mit denen meinem Kind das Leben gerettet werden könnte. Und es wäre ein Kinderspiel, sie zu holen. Lediglich eine Fensterscheibe brauchte ich einzuschlagen. Und da mir der Aufbewahrungsort des Schlüssels und die Lage des Tresor bekannt war, ich konnte beides noch bei meinen Arbeiten in Augenschein nehmen, konnte ich der Versuchung nicht wi­derstehen. Nun, das weitere wissen sie schon."

Der junge Mann schaute jetzt betreten zu Boden und Herr Baumann sah, dass in seinen Augen eine Träne schimmerte.
"Und, was soll nun werden, Herr Zander?" fragte Herr Baumann mit großer Anteilnahme. "Wollen sie ihr Kind jetzt einfach sterben lassen?"
"Aber das ist es ja gerade, ich bin ganz verzweifelt und weiß nicht, was ich tun soll." Bei diesen Worten zog er seine Brieftasche hervor und übergab Herrn Baumann ein Bild.
"Das ist meine Tochter, die kleine Sabine" 
Herr Baumann sah in das Gesicht eines liebreizenden Kindes, pralle Pausbacken, Grübchen darin, hellblaue, große Augen und langes, blondgelocktes Haar. Sein Herz krampfte sich zusammen, als ihm bewusst wurde, dass er das Bild eines tod­geweihten Kindes in der Hand hielt.
"Da muss etwas geschehen, wir müssen dem Kind helfen, Herr Zander, unter allen Umständen."
"Wir?" fragte dieser ungläubig nach. 
"Natürlich, oder glauben sie, ich lasse sie mit ihrem Problem allein?"
Herr Baumann sah auf die Uhr "Es ist jetzt 5,15 Uhr. Die Situation in der Beethovenstrasse wird noch unverändert sein. Ich werde zurück gehen in die Villa und das Geld holen."
Herr Zander wollte ihm ins Wort fallen, aber Herr Baumann herrschte ihn an: "Sind sie bitte still. Sehen sie die Sache einmal von folgenden Gesichtspunkt. Wenn ein Mensch, besonders ein Kind, in Not gerät, die sich in der Öffentlichkeit abspielt, wird alles Erdenkliche für seine Rettung getan. Im Fernsehen wurde vor kurzen solch eine Rettungsaktion gezeigt. Ein Kind war in einen tiefen, engen Schacht gefallen und war nur unter Einsatz aufwendiger Technischer Mittel zu befreien. Eine große Truppe der Feuerwehr rückte an. Ein Bagger wurde eingesetzt, und eine schwierige Erdbohrung wurde durchgeführt und schließlich wurde das Kind mit einem Hubschrauber ins Krankenhaus gebracht. Das hat sicher Zigtausende Mark gekostet. Gut angelegtes Geld für ein junges Menschenleben.
Ihre Tochter hatte nicht das "Glück", - in Anführungsstrichen gesagt,- in der Öffentlichkeit in Lebensgefahr zu sein. Soll es deshalb sterben?"

Mit diesen Worten hatte Herr Baumann wieder seinen Mantel angezogen, drückte Herrn Zander, der aufstehen und eine Erwiderung einleiten wollte, in den Sessel zurück. 
"Sie bleiben hier und warten auf mich, bis ich mit dem Geld zurück komme."
Dem jungen Mann liefen die Tränen über die Wangen
"Aber ich möchte nicht, dass sie für mich eine Straftat begehen. "
"Was ich tue," erklärte Herr Baumann, "Tue ich für das Kind, nicht für sie."
Und so ließ Herr Zander den Mann ziehen, der ihn vor einer Stunde noch der Polizei ausliefern wollte und nun mehr für ihn zu tun bereit war, als je eine Mensch zuvor.
Wie seltsam sind doch manchmal die Wege des Schicksals, dachte er. Nach einer knappen Stunde bereits kehrte Herr Baumann zurück. Es war wirklich ein Leichtes gewesen, das Geld zu holen. 

Die meiste Zeit hatte er gebraucht, um die 15 000 DM aus der Gesamtsumme auszuzählen. Denn das war klar, er wollte nur die Summe in Besitz nehmen, die unbedingt für die Operatrion erforderlich war.
Wir wollen es uns ersparen zu berichten, wie der Vater des Kindes reagierte und welche Gefühle er seinem Helfer gegenüber empfand, als er das Geld in den Händen hielt. Jeder, der sich ein mitfühlendes Herz bewahrt hat, kann das besser empfinden, als es zu schildern wäre.
Zehn Tage später flog Herr Zander mit seiner Tochter in die USA. Herr Baumann bekam fast täglich telefonischen Bericht. Endlich kam die erlösende Nachricht, dass die Operation gelungen sei und Komplikationen nicht zu erwarten wären. In vierzehn Tagen könne der Rückflug erfolgen.
Herr Baumann stand am Flugplatz, als Herr Zander mit ei­nem zwar noch schwachen und schonungsbedürftigen, aber grundsätzlich gesunden Kind aus Amerika zurückkehrte. Sechs Wochen später war die Kleine soweit hergestellt, dass sie sich ganz normal bewegen und ihrem Alter gemäß spielen konnte. Der Vater konnte sein Glück kaum fassen und Herr Baumann besuchte fast täglich seinen kleinen Schützling, der den Onkel Berti, wie sie ihn liebevoll nannte, fest ins Herz geschlossen hatte.

An einem Vormittag, drei Monate nach dem ersten Zusammentreffen der beiden Männer, trafen sie sich in der Wohnung des Herrn Baumann. Beide schauten sich ernst an und Herr Baumann sagte: "Haben wir den Mut gehabt, die Sache bis hierher durchzustehen, wollen wir auch den Mut haben, sie so ehrlich wie möglich zu beenden."
Eine halbe Stunde später sprachen beide im nächsten Polizeirevier vor und erklärten, dass sie eine Aussage wegen des Einbruchdiebstahls in der Villa Brekelmann zu machen hätten. Als der Polizeibeamte die Aussage der beiden proto­kolliert hatte, erklärte er kopfschüttelnd: "Ob ihnen das der Staatsanwalt und der Richter abnehmen? Nun, das ist ihr Problem."

Die beiden Männer hatten geglaubt, dass sie sich nun in Ruhe auf den zu erwartenden Prozess vorbereiten könnten. Aber es kam ganz anders. Als Herr Baumann zwei Tage später die Zeitung aufschlug, sprang ihm eine Überschrift in die Augen: 'Einbrecher aus Liebe zum todkranken Kind.' 
Hier fand er seine und Herrn Zanders Geschichte kurz wiedergegeben mit viel Sympathie für die Männer. Wenig später bekam Bernhard Zander Besuch von einem Vertreter einer großen Illustrierten. Diese boten ihm und Herrn Baumann einen Exklusivvertrag auf ihre Geschichte an. Zwar wollten beide keinen Medienrummel, aber nach reiflichen Nachdenken entschieden sie sich doch, das Angebot anzu­nehmen. Immerhin wurden ihnen 20 000 DM geboten und sie wussten nicht, was noch an finanziellen Forderungen, ein­schließlich der Gerichtskosten, auf sie zukommen würde. Hatten sie doch auch die Absicht, das gestohlene Geld zu­rückzuerstatten.
Die Illustrierte startete eine kleine Serie unter dem Titel: 'Zwei Männer, ein todgeweihtes Kind und ein Diebstahl aus Liebe'. Die Artikel, die wahrheitsgetreu das Erleben der Männer wiedergaben und den ganzen Leidensweg der Familie Zander darlegten, lösten eine Welle der Hilfsbereitschaft bei den Lesern aus. Innerhalb von vier Wochen flossen Herrn Zander 12 000 DM an Spenden zu. Als erstes wurden Herrn Brekelmann die 15 000 DM erstattet, die dieser noch nicht von der Versicherung ersetzt bekommen hatte.
Endlich traf auch de Anklageschrift ein. Sie lautete auf gmeinschaftlichen besonders schweren Einbruchdiebstahl. Die beiden Männer waren darüber informiert, dass auf diesem Tatbestand eine Freiheitsstrafe von 3 Monaten bis zu 10 Jahren stand.

Am Tage der Gerichtsverhandlung war der Zuhörerraum überfüllt. Die Presse und sogar das lokale Fernsehen waren zur Stelle. Mit Spannung erwarteten alle den Gang der Verhandlung und das Urteil. Die beiden Angeklagten hatten auf einen Verteidiger verzichtet, weil sie voll zu ihrer Tat ste­hen wollten und deshalb auch ohne Verteidiger auf ein ge­rechtes Urteil hofften.
Die Verhandlung fand vor den Schöffengericht statt, das mit einem Berufs- und zwei Laienrichtern besetzt ist. Der Vorsitzende Richter war ein älterer Herr, der für eine beson­ders faire und humane Verhandlungsführung bekannt war. Herr Baumann und Herr Zander mussten genau bis in die kleinsten Einzelheiten hinein die Motivation und die tatsächli­chen Abläufe der Geschehnisse schildern, was diese auch mit Freimut taten.
Auch Zeugen, das Ehepaar Brekelmann, wurden gehört und die Unterlagen über Krankheit und Operation des Kindes sorgfältig geprüft.
Als dieses geschehen war, kam es zu einer überraschenden Wendung im Prozess. Der Vorsitzende verkündete, dass die Verhandlung unterbrochen, sich das Gericht zur Beratung zurückziehen und nach etwa einer Dreiviertel Stunde wieder die Verhandlung eröffnen werde.

Durch den Zuhörerraum ging ein erstauntes Raunen. Niemand wusste so recht, was das zu bedeuten hatte. In der Pause wurde unter den Zuhörer eifrig über den Fall diskutiert. Schließlich eröffnete der Vorsitzende die Verhandlung wieder und führte folgendes aus: "Das Gericht ist nach Anhörung der Angeklagten und der Zeugen, sowie nach Prüfung aller Beweismaterialien zu der Überzeugung gekommen, dass die Anklage wegen gemeinschaftlichen besonders schweren Diebstahls gegen Herrn Baumann und Herrn Zander nicht aufrechterhalten werden kann. Das wird wie folgt begründet. Als Herr Zander in die Villa einbrach, war der Angeklagte Baumann ohnehin an dem Geschehen noch nicht beteiligt, so dass hier keine gemeinschaftliche Tat vorliegt. Als Herr Baumann schließlich in die Villa einstieg und den Diebstahl ausführte, war Herr Zander ebenfalls nicht aktiv beteiligt. Aus den glaubhaften Aussagen der Angeklagten geht hervor, dass Herr Zander die Informationen über die Verhältnisse im Hause Brekelmann und in Bezug auf das dort im Tresor de­ponierte Geld und den Aufbewahrungsort des dazugehörigen Schlüssels, nicht an den Angeklagten Baumann weitergege­ben hat, um diesen auf die günstige Gelegenheit eines Diebstahls aufmerksam zu machen, sondern diese Äußerungen trugen zweifelsfrei den Charakter eines Geständnisses. Auch hat Herr Zander Herrn Baumann nicht zu diesem Diebstahl aufgefordert, nicht einmal ermuntert. Im Gegenteil, er hat zunächst versucht, ihn von dieser Absicht abzubringen. Von daher kann eine Anklage gegen Herrn Zander wegen gemeinschaftlichen Diebstahls nicht aufrecht erhalten werden. Allerdings bleibt die Tatsache des Einbruchs bestehen.

Hier muss aber zu Gunsten des Herrn Zander § 24 Strafgesetzbuch angewendet werden.. Dieser lautet: 'Wegen Versuchs wird nicht bestraft, wer freiwillig die weitere Ausführung der Tat aufgibt'. Genau das hat Herr Zander ge­tan. Als er von Herrn Baumann gestellt wurde, befand er sich bereits außerhalb des Gebäudes, ohne den Tresor angerührt zu haben und somit ohne Beute. Er bleibt deshalb in diesem Punkt straffrei. Er hat aber eine Sachbeschädigung begangen, begründet in der eingeschlagenen Fensterscheibe. Gemäß §§ 303 und 303c des Strafgesetzbuches erfolgt hier aber eine Verfolgung nur auf Antrag des Geschädigten. Herr Brekelmann hat aber in dieser Sache keinen Strafantrag ge­stellt. Deshalb kann auch hier keine Bestrafung erfolgen.
Es bleibt aber gegen Herrn Zander der Vorwurf der Hehlerei gemäß § 259 Strafgesetzbuch, weil er das von Herrn Baumann gestohlene Geld für sich, beziehungsweise im Sinne des Gesetzes für einen Dritten, in diesem Falle für sein Kind, in Empfang genommen und verwendet hat. Hehlerei wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe geahndet.

Bei Herrn Baumann ergibt sich folgendes Bild. dass es sich bei ihm ebenfalls nicht um einen gemeinschaftlichen Diebstahl handeln kann, geht schon aus den Ausführungen über Herrn Zander hervor. Zweifelsfrei hat er aber einen Diebstahl begangen. Zu klären wäre, ob es ein besonders schwerer Diebstahl war. Fest steht, dass Herr Baumann in die Villa eingestiegen ist, allerdings ohne Gewalt anzuwenden, weil das eingeschlagene Fenster noch offen stand. Auch um an das Geld zu gelangen brauchte er keine Gewalt anzuwen­den, da ihm durch die Mitteilung des Herrn Zander der Aufbewahrungsort des Schlüssels zum Tresor bekannt war und er somit ohne weiteres das Geld an sich bringen konnte. Zwar geht § 243 Strafgesetzbuch davon aus, dass auch in sol­chen Fällen 'in der Regel' ein besonders schwerer Diebstahl vorliegt. Das Gericht ist aber der Meinung, dass wegen der besonderen Umstände dieses Falles von der Regel abgewichen werden kann und Herr Baumann nur wegen eines einfachen Diebstahls angeklagt werden sollte.

Wenn die Staatsanwaltschaft sich dieser Argumentation anschließt, wird die Verhandlung über die neuen Anklagepunkte weitergeführt."
Im Zuhörerraum hatte sich schon während er Ausführungen des Richters eine deutliche Stimmung zu Gunsten seiner Argumentation und somit für die Angeklagten, ausgebreitet. Als der Staatsanwalt verkündete, dass er sich er Argumentation des Gerichtes anschließe und die Anklage gegen Herrn Baumann und Herrn Zander auf die genannten Punkte reduziere, wurde im Zuhörerraum Beifall geklatscht, worauf der Richter im Interesse einer fairen Verhandlungsführung bat, von Sympathieäußerungen Abstand zu nehmen und die Ruhe im Gerichtssaal wieder herzustellen.

Nachdem sich die beiden Angeklagten jetzt im Sinne der Anklage für schuldig erklärt und auf ein letztes Wort zu ihrer Verteidigung verzichtet hatten, zog sich das Gericht nach dem Plädoyer des Staatsanwaltes zur Beratung der Urteilsfindung zurück.
Nach einer Beratungszeit von nur einer halben Stunde erschien das Gericht zur Urteilsverkündung. Nachdem sich alle im Gerichtssaal Anwesenden erhoben hatten, erklärte der Vorsitzende: "Im Namen des Volkes wird folgendes Urteil verkündet. Der Angeklagte Bernhard Zander ist gemäß § 259 Strafgesetzbuch der Hehlerei schuldig, der Angeklagte Berthold Baumann ist des einfachen Diebstahls gemäß § 242 Strafgesetzbuch schuldig.
Der Angeklagte Zander wird deshalb zu einer Geldstrafe von 500 DM und der Angeklagte Baumann zu einer Geldstrafe von 800 DM verurteilt. Bitte setzen sie sich," wandte sich der Richter an die Angeklagten und Zuhörer, durch deren Reihen ein hörbares Aufatmen ging und der Richter fuhr fort: "Das Urteil wird wie folgt begründet. Die Angeklagten haben sich der Taten selbst für schuldig erklärt so dass auf eine ausführliche Begründung verzichtet werden kann. Das Gericht ist sich bewusst, dass hier ein besonders mildes Urteil gefällt worden ist, weil alle Umstände so waren, dass sie zu Gunsten der Angeklagten ausgelegt werden konnten. Dazu gehört auch die Tatsache, dass die Angeklagten sich selbst der Justiz gestellt haben. Sonst wäre die Tat wahrscheinlich nicht aufgeklärt worden. Beide Angeklagten standen zum ersten mal vor Gericht, sind also bisher unbescholtene Bürger. Sie haben auch keine besondere kriminelle Energie aufgewandt, um an das Geld zu kommen. Im Gegenteil, Herr Zander hat von seiner ursprünglichen Absicht zu stehlen, freiwillig Abstand genommen. Dass er dann doch das Geld durch Herrn Baumann in Besitz genommen hat, ist menschlich durchaus verständlich.

Auch haben beide nicht in einer niedrigen Bereicherungsabsicht gehandelt, sondern um einem todkran­ken Kind zu helfen. Wenn jemals eine Straftat aus edlen Motiven begangen worden ist, dann sicherlich in diesem Fall. Deshalb hat auch das Gericht für beide Angeklagten, wie bereits erwähnt, mildernde Umstände anerkannt, wobei ich im Namen aller beteiligten Richter gestehen muss, dass uns ein mildes Urteil selten so leicht gefallen ist. Andererseits, - und das wird jeder einsehen - kann selbst das edelste Motiv nicht geltendes Recht außer Kraft setzen. Deshalb waren die Angeklagten zu bestrafen. Berücksichtigt wurde auch, dass der angerichtete Schaden wiedergutgemacht worden ist. Die Geldstrafen wurden auf einen Mindestbetrag festgesetzt, wenngleich," - und hier spielte ein kleines Lächeln um den Mund des Richters - " die Angeklagten inzwischen nicht ge­rade unvermögend sind. Das Gericht geht aber sicher nicht unbegründet davon aus, dass dies der kleinen Sabine zu Gute kommt und dass werden ihr wohl alle Anwesenden gönnen und wünschen. 
Das Gericht hofft, dass sich das Kind lebens­lang einer guten Gesundheit erfreuen wird. Gegen das Urteil kann das Rechtsmittel der Berufung einge­legt werden, die Angeklagten können das Urteil aber auch annehmen, dann wird es sofort rechtskräftig."

Herr Baumann und Herr Zander erklärten, dass sie das Urteil annehmen und die Staatsanwaltschaft, dass sie auf Rechtsmittel verzichte. "Damit ist die Verhandlung geschlos­sen," erklärte der Vorsitzende abschließend, wobei er nicht verhindern konnte, dass die Zuhörer im Gerichtssaal einem Beifallssturm entfesselten und die beiden Verurteilten viele Hände schütteln und das Blitzgewitter der Fotografen über sich ergehen lassen mussten, bevor sie das Gerichtsgebäude verlassen konnten.

Als sie in die Nebenstraße einbogen, kam ihnen die alte Tante mit der kleinen Sabine entgegen. Herr Zander stürmte auf das Kind zu, packte es mit beiden Händen unter die Arme und hob es hoch über seinen Kopf, wobei er sich übermütig im Kreise drehte.

"Mein Schatz, mein kleiner Liebling," rief er außer sich vor Freude. Inzwischen war auch Herr Baumann an die Gruppe herangekommen. Herr Zander stellte das Kind zwischen sich und Herrn Baumann, sah diesen fest in die Augen und sagte: "Vorbestraft sind wir ja nun wohl. Aber vom Schicksal bestraft fühle ich mich nicht mehr."
Dabei lachten beide Männer laut auf, stellten sich zur Rechten und Linken des Kindes auf, packten es an die kleinen Hände und hoben es, während sie eine Strecke im Laufschritt zurücklegten, einen guten Meter vom Boden ab, so dass es durch die Luft flog, stellten es nach einer kurzen Strecke wieder einen Moment auf den Boden, um das Ganze zu wiederholen. Die Kleine jauchzte bei jeden Anheben vor Freude und rief nach jedem Absetzen: "Noch einmal, noch einmal!"

Die alte Tante, die stehen geblieben war und die Szene beobachtet hatte, schaute ihnen nach und sagte mit leisem Kopfschütteln: "Typisch Männer!"

Dem Kommentar ist wohl nichts hinzuzufügen.

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