Herr Breker feiert Weihnachten
oder
Wer einsam ist, hat vergessen einzuladen


"Ganz allein saß Herr Breker an diesem Abend in seinem Wohnzimmer. Eigentlich wäre das nicht besonders Erwähnenswert, denn seit dem Tode seiner Frau vor drei Jahren war er fast immer allein, wenn es nicht ein außergewöhnlicher Tag und Abend gewesen wäre.

Zunächst hatte er er das Alleinsein nach dem Tode seiner Frau bewusst gesucht, es war seine Art der Leidbewältigung gewesen. Hinzu kam, dass das Ehepaar erst vor fünf Jahren auf Anraten des Arztes in diesen kleinen Luftkurort zugezogen war, der sich davon eine Besserung des Leidens seiner Frau erhofft hatte, was sich leider nicht bestätigte.
Bedingt durch dieses Leiden hatte das Paar sehr zurückgezogen gelebt und kaum Zeit und Möglichkeit gefunden, im neuen Wohnort Kontakte zu knüpfen.

Die Beziehungen zu Bekannten und Freunden im alten Wohnort, einer weit entfernten Großstadt, waren im Laufe der Jahre ganz abgebrochen. Da das Ehepaar kinderlos war, hatten Herr und Frau Breker im Alter -Herr Breker war Pensionär- an sich selbst Genüge gefunden.

Nach den Tode seiner Frau hatte Herr Breker sich in das völlige Alleinsein geflüchtet. Bisher hatte er das auch nicht als Mangel empfunden. Denn nicht jeder der allein ist, muss auch einsam sein. Besonders dann nicht, wenn man, wie Herr Breker , mit Literatur, Musik und anderen Dingen sich zu beschäftigen weiß.
Aber in letzter Zeit hatte er doch, ohne es sich selbst einzugestehen, gemerkt, dass ihm menschliche Kontakte, Freunde und Bekannte, Nehmen und Geben, fehlten. Aber immer wieder hatte er das verdrängen können.
An diesem besonderen Abend jedoch, es war der 24. Dezember, der Tag vor der Weihnacht, dem Heiligen Abend, wurde Herrn Breker zum ersten Mal bewusst, gestand er er sich ein: er war nicht nur allein, er war einsam,
Dabei hatte er das Empfinden, als wenn eine Kälte von unten her seinen Körper einnahm, sich zu seinem Herzen schlich, merkte, wie Bitterkeit ihn ausfüllen wollte.

"Niemand, niemand hat an mich gedacht, an diesem Fest der Liebe. Keine Karte mit guten Wünschen, kein Anruf, von einem Geschenk oder gar Besuch ganz zu schweigen."
Aber bei allen menschlichen Schwächen die bei Herrn Breker zu finden waren, wie bei jeden Menschen, hatte er eine gute Eigenschaft, eine charakterliche Stärke bewiesen: er machte sich nichts selber vor, war ehrlich zu und mit sich selbst. Von daher kam es wohl, dass die Kälte sein Herz nicht ganz erreichte, die Bitterkeit ihn nicht ganz ausfüllen konnte.

"Und wem" sagte er zu sich selbst, "Wem hast du zum Fest geschrieben, wen durch einen Anruf erfreut, wem ein Geschenkt gemacht?" Seine Antwort war ein langes Schweigen
Dann sprach er plötzlich laut uns vernehmlich, als wenn er eine Schar von Zuhörern hätte: "Dies war das letzte Weihnachten in Einsamkeit und Egoismus."

Das nächste Weihnachtsfest würde er anders verleben, das wusste er heute schon. Denn ihm war klar geworden, dass Einsamkeit nicht nur dadurch zustande kommt, dass sich niemand um einen kümmert, sondern ebenso dadurch, dass man sich selbst nicht um andere kümmert. Er wusste jetzt, was er zu tun hatte.
Es muss noch einmal erwähnt werden, seit seinem Umzug in den jetzigen Wohnort war er Pensionär geworden war. Bedingt durch die Krankheit seiner Frau und erst recht nach deren Tode, hatte er sich früh um alle Dinge des Haushaltes kümmern müssen. Das war ihm nicht schwer gefallen. Jetzt, da er alleine war, verbrachte er den Morgen meist in der Wohnung mit den notwendigen Hausarbeiten. An den Nachmittagen tätigte er seine Besorgungen und Einkäufe. Den Spätnachmittag und den Abend verbrachte er mit Lesen, musizieren – er spielte hin und wieder auch auf seinem Klavier – so war sein Tag meist ausgefüllt. Und für neue Beziehung blieb ihm augenscheinlich kaum Zeit.
Alles, was außerhalb seines Hauses vorging, registrierte er kaum,
Hätte man ihn nach den Namen der Personen befragt, die mit ihm im Hause wohnten, er hätte sie nicht gewusst. Wenn er wegen außerhäuslichen Besorgungen unterwegs war, war er meist in Gedanken versunken und richtete seine Aufmerksamkeit mehr auf die Dinge als auf die Menschen, so dass er kaum jemanden wahrnahm und dadurch selbst unbeachtet blieb.

Nach diesen besagten Weihnachtsfest änderte sich in dem Verhalten des Herrn Breker Entscheidendes. Für ihn standen nicht mehr die Dinge, sondern die Menschen im Mittelpunkt seines Interesses. Er wartetet nicht mehr – wie früher meist- dass man zunächst ihn, den meist älteren, grüßte, sondern kam mit seinem Gruß sogar oft den Kindern zuvor. Bald kannte er nicht nur die Namen der Hausbewohner, sondern meist auch die jeweilige familiäre Situation. 
Er wusste, welche Kinder zu welchem Ehepaar gehörten, welchem Beruf die Eltern haben und wie es den Familien ging. 

Er hätte zuvor nicht gedacht, dass Kontakte so leicht herzustellen wären. Aber nachdem man sich einige Male freundlich begrüßt hatte, kam es bald in der Schlange im Supermarkt, an der Haustüre oder auf der Straße zu kleinen Gesprächen.

Zunächst das übliche Standart Gespräch übers Wetter, über das Wohlbefinnden und später, vor allem bei den Müttern, über ihre Kinder. Wobei ein Lob über deren gutes Aussehen oder Wohlverhalten oft ein gradezu erstaunliches Mitteilungsbedürfnis auslöste. Bald kannte Herr Breker von einigen Familie der Nachbarschaft oder Alleinstehenden die kleinen und großen Sorgen. 

Und immer öfter wurde er nicht nur als geduldiger Zuhörer geschätzt, sondern auch als Ratgeber. Und zu seinen Erstaunen merkte er, dass seine Anteilnahme den Betreffenden gut tat und er selbst dadurch bereichert wurde. besonders auch da, wo er etwas mittragen und trösten konnte.
Ein besonderes Verhältnis fand er auch zu den Kindern seiner Umgebung. Angefangen hatte es damit, dass er ein Kind, das sich beim Spielen auf dem Spielplatz verletzt hatte, zu seinen Eltern brachte. Bei seinen Spaziergängen setzte er sich manchmal auf eine Bank an dem Spielplatz. Hier kam er schnell in ein Gespräch mit den Kindern und den Eltern. Und manche Süßigkeit wechselte hier den Besitzer. Auf diese Weise lernte er mehrere Familien näher kennen.
Nach einer gewissen Zeit war er bei diesen Familien so bekannt, dass über ihn solche Bemerkungen gemacht wurden wie: Herr Breker hat gesagt.., Herr Breker hat mir geraten..., Wenn die Kinder gefragt wurden wer denn der Herr sei, von dem sie so begeistert redeten, antworteten sie, das ist doch der nette alte Mann, der...
Ja, der zum Beispiel sich den Geburtstag einer Alleinstehenden Person oder eines Kindes gemerkt hatte und zu dessen besonderen Tag mit einem schriftlichen Gruß gratulierte.
Ein besonderes Gespür entwickelte er auch für einsame Menschen, wobei er die Erfahrung machte, dass nicht nur Alleinstehende, sondern dass sich oft auch Paare, besonders alte Menschen, einsam fühlten.
So gingen bald Einladungen und Grüße hin und her, und der Buchhändler wunderte sich, das jemand in der Jahresmitte einen Terminkalender verlangte.

Zu dieser Zeit hatte Herr Breker eine für ihn einschneidendes Erlebnis. Bei seinen Spaziergängen kam er oft an der örtlichen Kirche vorbei. Er war aber nie auf den Gedanken gekommen, einmal hineinzugehen. Er war, wie viele Menschen in unserer Region, "christlich" (in Anführungsstrichen!) erzogen worden, im ganz allgemeinem Sinn. Er glaubte, dass es einen Gott gibt, hatte sich aber nie tiefere Gedanken darüber gemacht. Seine Ehe war kirchlich geschlossen und seine Frau im üblichen kirchlichen Rahmen beigesetzt worden. Aber weder er noch seine Frau waren jemals in die Kirche gegangen.

An einem Tag im Monat Juli zog es ihn, so erklärte er es später, mit unwiderstehlicher Gewalt in die kleine Kirche, die menschenleer war. Er setzte sich auf die hinterste Kirchenbank und hatte ein Erlebnis, das er kaum beschreiben konnte. Er spürte die Gegenwart Gottes so nah, wie nie in seinem Leben, und von der unendlichen Liebe Gottes geleitet, sprach er zum ersten mal in seinem Leben ein freiformuliertes Gebet.
Was er im einzelnen gesagt hatte, wusste er nicht mehr. Aber er erinnerte sich, dass alles, was ihm als Schuld bewusst worden war, vor seinem inneren Auge abrollte und in die Hände Jesu gelegt wurde. Dabei hatte er die Gewissheit, dass er frei und erlöst war.

Von diesem Tag an war er ein regelmäßiger Gottesdienstbesucher.

Als der nächste 24. Dezember, der Heilige Abend herangekommen, befand sich Herr Breker nicht in seiner Wohnung. Er hatte im kirchlichen Altersheim die Aufgabe übernommen, bei der Weihnachtsfeier die Lieder auf dem Klavier zu begleiten. Auch an den anderen Feiertagen war er nicht allein. Es hatte sich auch bei hm bewahrheitet: Wer einsam ist, hat vergessen einzuladen, wer aber einlädt erfährt bald, dass er auch eingeladen wird. So konnte er nicht alle Einladungen annehmen, die ihm angeboten wurden und er nicht so viele einladen wie er es gerne gemocht hätte. Aber er meinte, mit Rückblick auf das vorige Jahr, dass das zu Recht angenehme Probleme wären.

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