Szene am Fluss
oder
Eine etwas andere Weihnachtsgeschichte


Warum er gerade am Heiligen Abend in die Stadt gefahren war, hätte David Wender rational nicht erklären können. Es hatte ihn an diesem Tage einfach verlangt, die Stadt, in der er so lange gelebt und so viel erlebt hatte, wiederzusehen. Erst nach den Tode seiner Frau, vor eineinhalb Jahren, hatte er die große Wohnung in der Stadt aufgegeben und war in einen kleinen Vorort gezogen. Der äußere Anlass war, das Grab seiner Frau zu besuchen. Es war schon der zweite Heilige Abend, den er ohne seine Frau, und das bedeutete allein, verbringen musste. Lange stand er an ihrem Grab und Ereignisse der letzten Jahre, die sein Leben entscheidend geprägt hatten, zogen noch einmal an seinem inneren Auge vorüber.

Es war ein klarer, kühler, nicht sehr kalter Dezembertag, so konnte er lange Zeit unbeweglich stehen und seinen Gedanken nachhängen. Er hatte seine Eva wirklich aus Liebe geheiratet, und als ihr erster und einziger Sohn geboren wurde, war das Glück für beide vollkommen gewesen. Aber im Laufe der Jahre war eine gewisse Resignation eingetreten. Besonders enttäuscht war er über seine berufliche Entwicklung gewesen, die ihm nicht die Fortschritte gebracht hatte, die er mit Sicherheit erhofft hatte.

Sein Sohn, Ferdinand - der Ferdi gerufen wurde -, war ein ganz normales Kind ohne besondere Begabungen , nicht immer gut in der Schule, zur großen Enttäuschung seines Vaters, der alle beruflichen Hoffnungen, die er selbst nicht erfüllt sah, auf seinen Sohn projizierte, was zwangsläufig zu Spannungen führen musste.
Als Ferdi nach der mittleren Reife die Schule aufgab und, anstatt das Abitur zu machen und zu studieren, wie der Vater es sich gewünscht hatte, eine Lehre als Einzelhandelskaufmann begann, und sich einige Enttäuschungen, die das Leben jedem bringt, dazu gesellten , wurde er verbittert, ohne sich dessen bewusst zu werden. Alles ist gegen mich, dachte er oft bei sich.

Eva, seine Frau, hatte die langsame Wandlung wohl bemerkt, aber nicht die Kraft und die Fähigkeit, wirksam gegenzusteuern. Besonders schwierig und belastend wurde das Verhältnis zu Ferdi, als dieser in die Pubertät kam und zeitweise die üblichen Aversionen gegen das Elternhaus und insbesondere gegen den Vater entwickelte. David Wender hatte dafür überhaupt kein Verständnis, und das Verhältnis zwischen Vater und Sohn entwickelte sich in diesen Jahren zu einem sehr distanzierten, so dass sie nur das Notwendigste miteinander sprachen. Es entwickelte sich zwischen ihnen die Situation, die man leider in vielen Familien antrifft, in der der Vater die innere Beziehung zu seinen Kindern verloren hat. 

Alle Probleme wurden ausschließlich mit der Mutter besprochen unter dem ausdrücklichen Hinweis, Vater nichts davon zu erzählen. Das hatte zur Folge, dass sich auch zwischen den Eheleuten ein latentes Misstrauen bildete, unter dem beide litten, ohne den Bann durchbrechen zu können. Das entscheidende Ereignis, das endgültig die Beziehung zwischen Vater und Sohn zerstörte, spielte sich ausgerechnet am Heiligen Abend vor sechs Jahren ab. Seine Frau war am Vormittag noch mit den üblichen Vorbereitungen beschäftigt, als er bemerkte, wie Mutter und Sohn, wie so oft zu seinem Ärger, leise miteinander sprachen, ohne ihn in das Gespräch einzubeziehen.
Als er leicht verärgert fragte, was es denn zu besprechen gäbe und ob er wohl in seinem eigenen Hause dies auch erfahren dürfe, kam Ferdi auf ihn zu, und sprach ihn nach langer Zeit wieder einmal direkt an.
David Wender hatte noch den genauen Wortlaut des Gespräches in Erinnerung: "Ich wollte ohnehin einmal wegen einer für mich wichtigen Angelegenheit mit dir reden," begann Ferdi das Gespräch, wobei es David Wender auffiel, dass sein Sohn, wie immer in den letzten Jahren, die Anrede 'Vater' bewusst vermied.

"Ich habe vor einiger Zeit ein Mädchen kennen gelernt. Sie ist wirklich lieb und gut erzogen, zwei Jahre jünger als ich und wir lieben uns, ich glaube es ist etwas wirklich Ernstliches.
Aber sie hat niemanden, zu dem sie am Heiligen Abend gehen könnte. Zu ihren Eltern kann sie wegen der weiten Entfernung nicht, und so dachte ich, dass sie den heutigen Abend bei uns verleben kann, ich denke, du hast nichts dagegen?" Er erinnerte sich, dass er im Geheimen schon sehr verärgert war, dass man ihm bisher nichts von dem Verhältnis seines Sohnes zu einem Mädchen mitgeteilt hatte. So fragte er zurück: "Warum kann sie nicht zu ihren Eltern, woher kommt sie denn?"
"Sie kommt aus Indien," antwortete Ferdi.
"Ach," hatte er geantwortet, "ist der Vater im Ausland tätig?"
"Nein, das hast du falsch verstanden, die Eltern leben in Indien, sie sind Inder und nur ihre Tochter lebt in Deutschland."
"Was," hatte er mit scharfer, gepresste Stimme geantwortet, "du willst mir eine Ausländerin ins Haus schleppen, eine Farbige, eine Schwarze, willst Du mich zum Gespött der Leute machen, und Ernst ist es dir auch noch damit. Gedenkst du vielleicht diese... diese... Fremdländische zu heiraten? "
"Ja, natürlich, das habe ich vor," hatte Ferdi ruhig und gefasst geantwortet, "ich sagte schon, dass wir uns lieben."
"So, dann werde ich also in nicht allzu ferner Zukunft Mulattenkinder auf meinem Schoß sitzen haben?
Und ich sage dir, dieses Weibsbild kommt mir nicht ins Haus!" hatte er seinem Sohn entgegengeschleudert. Er erinnerte sich, dass Ferdi bei dieser Äußerung sehr blass wurde und ein kalter Glanz in seine Augen kam und mit fester Stimme antwortete: "Dann habe ich auch in diesem Hause nichts mehr zu suchen," war zur Garderobe geschritten, hatte sich seinen Mantel übergezogen, verabschiedete sich von der weinenden Mutter und verließ das Haus. Seitdem hatte er seinen Sohn nicht mehr gesehen. 

Eva hatte unter all dem sehr gelitten, und das Verhältnis der Ehegatten untereinander wurde immer kühler, aber er verbat sich ausdrücklich, über ihren Sohn zu reden und von ihm zu hören. Die Mutter setzte sich aber doch insoweit durch, dass sie den Kontakt zu ihrem Sohn weiter aufrecht hielt und hin und wieder auch entsprechende Bemerkungen gegenüber ihrem Mann fallen ließ, was dieser mit der Zeit wortlos duldete.

Alle Versöhnungsversuche seiner Frau zwischen ihm und dem Sohn scheiterten. Als Ferdi das Mädchen heiratete , nahm nur die Mutter an der Hochzeit teil. Als ein Jahr später das erste Enkelkind geboren wurde, nahm er auch diese Mitteilung seiner Frau wortlos zur Kenntnis.
Selbst der Tod und das Begräbnis seiner Frau vor eineinhalb Jahren hatten keine Versöhnung herbeigeführt, obwohl Ferdi, allerdings ohne seine Frau, an der Beerdigung teilnahm und sogar auf ihn zugekommen war und ihm die Hand gedrückt hatte. Von seiner Seite aber war sonst nichts geschehen. Erst nach den Tode seiner Frau und in der Einsamkeit war ihm mehr und mehr bewusst geworden, wie schwer er es seinem Sohn, seiner Frau und letztlich sich selbst gemacht hatte. Im Grunde, darüber war er sich heute im klaren, war das alles nur passiert, weil er unrealistische Erwartungen an seinem Sohn gehabt hatte. Er wollte auf seinen Sohn stolz sein können, ohne danach zu fragen, was ihn glücklich machen würde.

Nach dem Tode seiner Frau hatte sich allmählich eine innere Wandlung bei ihm eingestellt, die er sich selbst noch nicht eingestehen wollte. In seinem Herzen hatte er längst eingesehen, wie unsinnig seine rassistischen Vorurteile waren. Einige Male hatte er sogar die Telefonnummer seines Sohnes gewählt und als dieser oder seine Frau sich meldete, den Hörer aufgelegt, weil er nur ihre Stimmen einmal hören wollte. Vor kurzem hatte seine Enkelin, die kleine Bärbel, die inzwischen fünf Jahre alt war, den Hörer abgenommen und erklärt, dass ihre Eltern nicht zu Hause wären und er später anrufen möchte. Er hatte unter dem Vorwand, sich verwählt zu haben, ein kleines Gespräch mit dem Kind angefangen. Aber den Mut, eine Versöhnung mit seinen Kindern einzuleiten, hatte er nicht aufgebracht. Immer noch stritten Stolz und Verbitterung mit Versöhnungsbereitschaft und Liebe zu seinem Sohn in seinem Inneren miteinander, wobei im entscheidenden Augenblick immer wieder das Trennende die Oberhand gewann. 

Als er mit seinen Gedanken in die Wirklichkeit zurückkehrte, merkte er, dass er doch zu lange in der Kälte gestanden hatte und er stark durchgefroren war. "Auf Wiedersehen, Eva," sagte er noch leise, "und vergib mir." Damit verließ er mit schnellen Schritten das Friedhofsgelände, um sich warm zu laufen. 

Dabei kam ihm die Idee, noch einmal den vertrauten Weg an dem kleinen Fluss entlang zu gehen, der durch die Stadt führte, auf dem er mit seiner Familie in besseren Tagen so oft gegangen war. 
Um diese Zeit, am frühen Nachmittag des Heiligen Abend, hatten mehrere Familien die Gelegenheit genutzt, noch einen kleinen Spaziergang zu unternehmen, sicherlich aus dem gleichen Grunde, wie wir es damals taten, fuhr es ihm durch den Sinn. Ferdi war immer so ungeduldig in den Stunden vor der Bescherung gewesen, dass ein kleiner Spaziergang in der frischen Luft auf diesen für Kinder besonders interessanten Weg am Wasser, für Abwechslung sorgte. 
Als David Wender den Weg erreicht hatte und eine Zeitlang darauf gegangen war, bemerkte er vor sich eine Familie, Vater , Mutter und ein Kind, ein Mädchen, vielleicht vier oder fünf Jahre alt. Es vergnügte sich damit, kleine Steine vom Wegesrand aufzuheben, die vier oder fünf Meter des Wiesengeländes, das zwischen dem Weg und dem Fluss lag, zu überqueren und die Steine ins Wasser zu werfen, wobei sie bei jedem Plumps einen kleinen Freudenschrei ausstieß. Wie sich doch die Bilder gleichen, genau wie damals bei Ferdi, fuhr es ihm durch den Sinn. Er hatte auch immer mit Wonne die Steine ins Wasser befördert, wobei er immer gerufen hatte: "Vati, Vati, schau mal, was ich kann." 
Und damals war er noch stolz auf seinen Sohn gewesen. In seine Gedanken hinein hörte er, wie der Vater des Mädchens dieses ermahnte, nicht zu nahe an das Ufer heranzugehen, was diese auch brav befolgte. 

Was aber alle nicht berücksichtigt hatten, war der Umstand, dass es kalt war, um den Gefrierpunkt, und das Wiesengelände stellenweise vereist war. So kam es, als das Kind einen Stein ins Wasser werfen wollte, es auf einer glatten Stelle ausrutschte, sich auf der etwas abschüssigen Fläche nicht halten konnte und zum Entsetzen aller in den Fluss fiel, von dessen Strömung es erfasst und abgetrieben wurde. Der Vater war sofort an das Ufer gelaufen, schaute nach seinem Kind und rief völlig verzweifelt: "Um Gottes Willen, mein Kind, rettet mein Kind, ich kann nicht schwimmen." Der Fluss war an dieser Stelle nicht besonders breit, aber tief, wie die Einheimischen wussten. David Wender war, wie auch die Familie vor ihm, flussaufwärts gegangen, so dass das Kind im Fluss auf ihn zugetrieben kam. Ohne zu zögern zog er mit ein paar schnellen Handgriffen seinen Mantel, seine Jacke und die Schuhe aus und sprang beherzt in die kalte Flut.

Mit ein paar kräftigen Schwimmstößen war er in die Mitte des Flusses gekommen, wo das Kind direkt auf ihn zutrieb. Mit einem festen Griff packte er es unter die Arme, presste das kleine Menschenkind, das keinen Laut von sich gab, mit der linken Hand an seine Brust und schwamm mit wenigen Stößen an das rettende Ufer, wo sich bereits die verängstigten Eltern befanden um ihn und das Kind in Empfang zu nehmen. Er legte das Kind in die Arme des Vaters, wobei sein Blick zum erstenmal bewusst in das Gesicht des Kindes fiel, das einen eigenartigen braunen Teint hatte. Ein Mulattenkind, fuhr es ihm durch den Kopf, wie mein Enkelkind. Und wie hübsch es ist!
"Ich danke ihnen von ganzen Herzen, sie haben unser Kind gerettet," hörte er den Vater sagen, "das werde ich ihnen nie vergessen."

David Wenders, triefend vor Nässe, schaute zu dem Mann auf und sagte: " Sie brauchen sich nicht zu bedanken, das ist doch selbstverständlich."
Während er den jungen Mann anschaute, bemerkte er, wie in dessen Gesicht eine große Veränderung vorging. Er schaute den Retter seines Kindes mit immer größer werdenden Augen an, Fassungslosigkeit zeichnete den Ausdruck seine Gesichtes, so wie es einem passiert, der etwas Unglaubliches wahr werden sieht, und rief schließlich: "Vater, Vater, du bist es! Du hast unser Kind gerettet!" und ohne Rücksicht auf die völlig durchnässte Kleidung presst er den altem Mann an sein Herz, ihn und das Kind abwechselnd küssend. 
David Wenders hatte in der Aufregung zunächst gar nicht begriffen, was vorging. Erst allmählich wurde ihm bewusst, was passiert war. Es war wirklich sein Sohn, Ferdinand, sein Ferdi, in dessen Armen er lag. Es war tatsächlich sein Enkelkind, das er aus dem Fluss gezogen hatte.
Bevor er aber reagieren und antworten konnte, verließen ihn die Kräfte und er entglitt dem Griff seines Sohnes und rutschte zu Boden.

Als er wieder zur Besinnung kam, fand er sich in einem Bett wieder und schaute in das dunkle Gesicht einer jungen, ausgesprochen hübschen, stolz und selbstbewusst wirkenden jungen Frau, einer Inderin.
"Ich habe gar nicht gewusst, dass es so schöne Frauen in Indien gibt," sagte er halblaut, ohne recht zu wissen wo er war und was er sagte, und dann, etwas bewusster, "sind sie, bist du...?"
"Ja, ich bin die Frau deines Sohnes, die Mutter deines Enkelkindes und deine Schwiegertochter, stolzer Mann," sagte sie mit ernstem Gesicht, und dann, mit einem kleinen, liebreizenden Lächeln: "und danke für das Kompliment."
David Wender ergriff die Hand seiner Schwiegertochter und drückte sie lange, und beide wussten, dass das mehr bedeutete als eine lange Rede.

"Wie geht es dem Kind?" fragte er noch besorgt.
"Ein kleiner Schock , schon überwunden" antwortete die junge Frau zur Erleichterung des Fragenden.
Ein paar Stunden später waren alle wieder wohlauf. Gesprochen wurde an diesem Heiligen Abend nicht sehr viel, aber immer wieder gingen wohlwollende und dankbare Blicke zwischen den Beteiligten hin und her.
David Wender sagte einmal halblaut vor sich hin,: "Wenn Mutter das erlebt hätte."

Nur die kleine Bärbel plapperte fast unaufhörlich und konnte es gar nicht recht begreifen, dass das Christkind ihr wirklich zum Weihnachtsfest einen Opa geschenkt hatte, von dessen Schoß sie nicht wegzukriegen war.
David Wender aber dachte bei sich, warum sind wir klugen Menschen oft nur so entsetzlich dumm, Und das erste mal seit langer Zeit sprach er wieder mal ein Gebet. Es enthielt nur drei Worte: 'Danke, lieber Gott'. Und immer wieder drückte er das kleine Wesen, sein Enkelkind, liebevoll an seine Brust. 

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