Fränzi
oder
Lügen haben kurze Beine


Fränzi war von kleinauf schwierig gewesen. Als Baby schrie sie oft stundenlang ohne ersichtlichen Grund. Der Arzt stelltet immer wieder fest: kerngesund.

Als sie ins Trotzalter kam, trampelte sie oft minutenlang mit den Füßen auf den Boden oder trommelte mit ihren kleinen, harten Fäusten auf ein Möbelstück, wenn sie ihren Willen nicht bekam. 
Dass sie in ihrer Frechheit auch sehr intelligent war, zeigt folgendes kleines Ereignis. Fränzi war damals circa 6 Jahre alt. Als sie wieder einmal dauernd das Gespräch der Eltern unterbrach, schimpfte die Mutter: "Nun halt endlich einmal deinen großen Mund." Daraufhin sagte das kleine Fräulein in aller Ruhe: "Ich habe keinen großen Mund. Du hast einen großen Mund." Als die Eltern mit entsetzen Gesten reagierten, sagte die Kleine in aller Ruhe: "Das stimmt doch, du bist viel größer als ich, so hast du auch einem größeren Mund als ich."
Ich denke, dieses kleine Ereignis sagt alles.

Im Alter von 10 Jahren war sie sogar einmal von zu Hause weggelaufen, war aber bald zurückgekommen.
Herr und Frau Weimer, ihre Eltern, waren oftmals ganz verzweifelt. Sie hofften, dass mit zunehmenden Alter und Reife, sich das Verhalten ihrer Tochter ändern würde. Das einzig Positive war, dass sie in der Schule gut mitkam. Ihre letzte Hoffnung hatten die Eltern auf das Pubertätsalter gesetzt. Vielleicht, wenn sie allmählich zur Frau heranreifte, würden diese kindlichen Reaktionen verschwinden.

Fränzi war 16 Jahre alt, als sich das Ereignis abspielte, das die Situation wohl endgültig aussichtslos zu machen schien.
Fränzi hatte eines Tages den Wunsch geäußert, eine neue Jeanshose zu bekommen. Das wäre normalerweise kein Problem gewesen. Aber Fränzi wollte nicht irgendeine Hose, sondern eine von den in dieser Zeit bei jungen Leuten besonders beliebten, die man schon im Geschäft mit aufgesetzten Flicken und künstlichen Löchern und obendrein verwaschen, kaufen konnte.

Da bei Weimers das Geld oft knapp war, hatte der Vater den Wunsch kategorisch abgelehnt. Erstaunlicherweise war Fränzi dieses Mal ganz ruhig geblieben und hatte sich zu dem Problem nicht mehr geäußert.
Aber am nächsten Tag, als sie mit ihrer Mutter alleine war, fing sie mit dieser an zu diskutieren und zu streiten. Mutter Weimer hatte sich dieses Mal vorgenommen, hart zu bleiben und auf keinen Fall nachzugeben. Vielleicht war der Trotz dieses Mädchens doch noch zu brechen.

Im Laufe der Diskussion geriet Fränzi immer mehr in Wut. Als alles nicht fruchtete, fing sie an, mit den Fäusten auf die Wand des Zimmers zu trommeln, wobei sie die Eltern des Geizes und der Lieblosigkeit bezichtigte.
Frau Weimer war außer sich und am Ende ihrer Kraft. Deshalb verließ sie den Raum und ging in ein Nebenzimmer. Das brachte Fränzi erst recht in Rage und in ihrer Wut stieß sie zweimal mit dem Kopf vor die Wand. Dabei hatte sie wohl die Wucht des letzten Stoßes unterschätzt. 

Sie spürte einen stechenden Schmerz, taumelte, verlor das Gleichgewicht und fiel zu Boden. Im Fallen stieß sie einen kleinen Beistelltisch um, auf dem sich einige Porzellanstücke befanden, die durch den Fall zerbrachen. Sie fiel dann mit dem Kopf so unglücklich auf eine Stuhlkante, dass sie das Bewusstsein verlor.
Frau Weimer hatte das Geräusch im Nebenzimmer gehört und stürzte ins Wohnzimmer. Einen Augenblick lang war sie völlig rat- und hilflos. Da lag ihre Tochter, bewusstlos und blutend am Boden, sie hatte sich am zerbrochenen Porzellan verletzt, und regte sich nicht.

In ihrer Angst und Verzweiflung rief die Mutter den Hausarzt an, der nur einige Häuser weiter wohnte und ein paar Minuten später eintraf.
Frau Weimer hatte inzwischen ihrer Tochter den Kopf hoch gelegt und ihr Gesicht mit etwas kaltem Wasser besprengt, worauf Fränzi die Augen aufschlug, gerade in dem Moment, als der Arzt eingetroffen war. Dieser versorgte zunächst ihre Schnittwunden, die sich als relativ harmlos herausstellten und fragte schließlich, wie es zu diesem Sturz gekommen war. 

Fränzi antwortete nicht, was die Mutter auf ihren Zustand zurückführte. Tatsächlich hätte Fränzi niemals eingestanden, dass der ganze Unfall Folge ihres Starrsinns und ihres kindi­schen Benehmens war.
Da ihre Tochter nicht antwortete, erklärte die Mutter dem Arzt die Situation. "Wir haben, leider muss ich das gestehen, eine Auseinandersetzung gehabt, in deren Verlauf sich Fränzi sehr aufgeregt hat. Als ich das Zimmer verlassen hatte, ist sie dann zusammengebrochen. Es muss wohl ein Anfall gewesen sein, anders ist das plötzliche Zusammenbrechen wohl nicht zu erklären."

Der Arzt war bei dem Wort 'Anfall' hellhörig geworden und auch Fränzi war innerlich zusammengezuckt. Raffiniert wie sie war, wusste sie sofort die Situation zu nutzen. Als der Arzt ihr nach und nach Fragen stellte, die klären sollten, ob sich hier vielleicht ein Anfallsleiden epileptischer Art anbahnte, was häufig im jugendlichen Alter beginnt, brauchte sie nur alle Fragen mit 'Ja'; oder 'ich glaube schon' zu beantworten und der Arzt sagte der Mutter im Vertrauen, dass der Beginn eines solchen Leidens nicht auszuschließen sei. Wichtig sei nun, dass das Mädchen viel Ruhe bekomme und Aufregungen vermieden würden, diese seien das reinste Gift für sie. Die Eltern müssten rücksichtsvoll und schonend mit ihr umgehen, dann breche das Leiden wahrscheinlich nicht in voller Stärke aus.

Von nun an wurde Fränzi kein Wunsch mehr versagt. In kritischen Situationen fasste sie sich an den Kopf und erklärte, sie habe den Eindruck, dass 'es' wieder komme, worauf die Eltern auf jede Forderung eingingen. Oft ging es für die Eltern über die Grenzen des Erträglichen. Aber aus Sorge um die Gesundheit ihrer Tochter und aus Liebe zu ihr nahmen sie alles in Kauf.

So war nach menschlichen Ermessen eine Änderung dieser fatalen Situation nicht mehr zu erwarten. Aber wie es manchmal im Leben geht, es treten Ereignisse ein, die mit dem Problem, das uns bedrückt, nichts zu tun haben und die dennoch eine schicksalhafte Bedeutung erlangen
In diesem Fall war es eine Krankheit von Frau Weimer. Es stellte sich heraus, dass sie an Gallensteine litt, die operativ entfernt werden mussten. 

Deshalb wurde ein Krankenhausaufenthalt notwendig. Da Fränzi während dieser Zeit wegen ihrer Kompliziertheit und Krankheit den Haushalt nicht versorgen konnte und Herr Weimer meist spät vom Dienst nach Hause kam und im übrigen äußerst ungeschickt in Haushaltsdingen war, bot sich Tante Dora an, die Restfamilie in dieser Zeit zu versorgen.

Tante Dora ist die alleinstehende Schwester der Frau Weimer und als Lehrerin am Gymnasium tätig. Vor ihrem Pädagogikstudium hatte sie einige Semester Medizin studiert. Dann aber hatte die Liebe zum Lehrerberuf überwogen. Da der Krankenhausaufenthalt gerade in die Sommerferien der Schule fiel, war sie zu dieser Hilfe gerne bereit. Sie ist das, was man eine fromme Frau nennt und betet täglich für das Gelingen des Tages, was ihr jetzt, in der schwierigen Situation mit Fränzi, ein besonderes Anliegen war.

Allerdings machten sie und die Eltern sich große Sorgen, wie sie mit Fränzi zurechtkommen würde und Frau Weimer gab ihrer Schwester zahlreiche Verhaltensmaßregeln, bevor sie ins Krankenhaus ging. Dennoch wussten alle, dass eine Konfrontation mit Fränzi kaum zu vermeiden war und alle bangten vor diesen Augenblick.

Tatsächlich kam es bereits nach drei Tagen zu einer Auseinandersetzung zwischen Tante Dora und Fränzi. Wie meist in solchen Fällen wegen einer Bagatelle. Bevor Tante Dora richtig bemerkte, was sich hier anbahnte, fasste sich Fränzi an die Stirn und fiel unter Krämpfen zu Boden. Die Tante war zunächst tief erschrocken und machte sich in ihrem Inneren heftige Vorwürfe, dass sie nicht vorsichtiger gewesen war. Sie entschloss sich, den Hausarzt zu rufen, schaute aber, bevor sie zum Telefon ging, dem Mädchen noch einmal aufmerksam ins Gesicht. 

Und plötzlich wusste sie, was sie zu tun hatte. Sie ging an den Radioapparat und stellte einen Sender mit flotter Musik ein und machte sich, die Melodie, die aus dem Radio erklang, mitpfeifend, im Haushalt zu schaffen. Wenn sie in die Nähe der am Boden liegenden Fränzi kam, stieg sie mit einem großen Schritt über sie hinweg. 
Nach etwa einer halben Minute sprang Fränzi vom Boden auf, stellte sich mit wütenden, verkniffenen Gesicht vor ihrer Tante auf und fuhr sie an: "Du herzloses Weib, es ist dir wohl ganz egal, ob ich hier leide und verrecke. Du behandelst mich wie ein Stück Vieh. Ich werde meinen Eltern alles sagen, mach, dass du wegkommst."
Tante Dora schaute Fränzi zunächst nur fest in die Augen und sagte nichts. Das machte Fränzi offensichtlich unsicher. "Willst du dich nicht dazu äußern?" fragte diese aufgebracht.
"Doch," erklärte die Tante in einem ruhigen aber bestimmtem Ton, "ich will mich dazu äußern und zwar gründlich und ehrlich. Du hast kein Anfallsleiden, sondern bist eine Simulantin und wahrscheinlich hysterisch, betrügst und tyrannisierst deine Eltern." 

An dieser Stelle wollte Fränzi ihr ins Wort fallen, aber Tante Dora sah sie gebieterisch an und erklärte fest: "Du bist jetzt still und hörst mir zu. Wie du weißt, habe ich auch einige Semester Medizin studiert. In diesem Zusammenhang habe ich auch ein Praktikum in einem Landeskrankenhaus absolviert, wo auch Anfallsleidende untergebracht waren. Ich habe leider mehrere Male miterleben müssen, wenn Patienten ihren Anfall bekamen. 
Ich weiß genau, wie das vonstatten geht. Aber so wie bei dir ist es nie gewesen. Meine liebe Fränzi, das habe ich in einem Augenblick erkannt. 

Und dass du nach kaum einer halben Minute aufgesprungen bist, hat meinen Verdacht bestätigt. Echte Kranke sind nach einem Anfall abgespannt und müde und fallen schnell in Schlaf."
Fränzi hatte sich während dieser Erklärung auf die Couch gesetzt und die Hände vor das Gesicht geschlagen. Ihre Tante setzte sich schließlich zu ihr, schlang die Arme um sie und sagte,: "Mein Kind, glaube mir, ich will dir nichts Böses. Aber wenn du so weitermachst, ruinierst du dein Leben und das deiner Eltern dazu. Und vor allen Dingen, du hast das nicht nötig. Du bist gesund und intelligent und ich bin überzeugt, dass du dich auch mit ganz legalen Mitteln durchzusetzen verstehst." 
Danach trat eine Pause ein und Tante Dora wusste, dass sich nun alles entscheiden würde, das Wohl oder Wehe eines Lebens und einer Familie. Es war die letzte Chance für Fränzi. Endlich nahm sie die Hände vom Gesicht und die Tante sah, dass sie weinte.

"Tante Dora," begann Fränzi, " du ahnst gar nicht, wie froh ich bin, dass das falsche Spiel entlarvt ist. Schon lange ist mir klar, dass es so nicht weitergeht. Aber ich wusste keinen Ausweg, nachdem ich die Täuschung erst einmal begonnen hatte. Und was habe ich meinen Eltern angetan!"
Nun folgte ein langes Gespräch zwischen den Frauen und Fränzi schüttete zum ersten Mal in ihrem Leben einem anderen ihr Herz aus.

Fränzi war tief bewegt und innerlich aufgewühlt und der Tante wurde klar, wie sehr auch das Mädchen unter ihrer eigenen Schuld gelitten haben musste. Schließlich erklärte sie: "Tante Dora, ich werde mich ändern, ab sofort. Ich schäme mich nur so schrecklich vor meinen Eltern. Wenn sie erfahren, dass ich sie in der ganzen Zeit belogen und betrogen habe, das bricht ihnen mehr das Herz, als wenn ich wirklich krank wäre. Was soll ich bloß machen?"
"Pass einmal auf," sagte die Tante, "entscheidend ist, dass die Eltern zur Ruhe kommen und überzeugt werden, dass du gesund bist. Wir werden mit dem Arzt sprechen, er kann deinen Eltern erklären, dass keine Gefahr mehr für deine Gesundheit besteht, ohne die Hintergründe zu nennen. Suche Kontakt zu deinen Eltern und benimm dich normal und lass hin und wieder durchblicken, dass du dich wohl fühlst und dass du selbst nicht glaubst, dass sich noch einmal ein Anfall einstellen wird. 

Du wirst sehen, wie glücklich deine Eltern sein werden, und vor allem auch du selbst. Und alles was wir heute erlebt und besprochen haben, bleibt ein ewiges Geheimnis zwischen uns. Einverstanden, Fränzi?"
"Natürlich , Tante Dora, unter einer Bedingung, dass du meine mütterliche Freundin bist und meine Beraterin und mein Korrektiv bleibst, bis ich mich selbst im Griff habe." "Daran soll es nicht scheitern, dazu bin ich gerne bereit," erklärte die Tante, "du kannst jederzeit zu mit kommen und dich aussprechen."

Als Frau Weimer aus dem Krankenhaus kam, wunderte sie sich, dass ihre Schwester ihr tatsächlich nur Gutes über Fränzi zu berichten hatte. Gewundert hat sie sich in der Folgezeit nur, dass ihre Tochter solch ein gutes und inniges Verhältnis zu ihrer Tante entwickelt hatte. Fast war sie manchmal ein bisschen eifersüchtig. 
Aber wenn sie dann sah, welch positive Entwicklung ihre Tochter genommen hatte und an all die Schwierigkeiten und Ängste der vergangenen Jahre zurückdachte, kam immer eine große Dankbarkeit in ihr auf. Fränzi hat übrigens noch ein gutes Abitur geschafft und sich zum Medizinstudium entschlossen. Später ließ sie sich noch zur Psychotherapeutin ausbilden.. Besondere Erfolge hatte sie in der Behandlung von psychisch gestörten jungen Menschen auf hysterischen Hintergrund.

Manchmal, in einer stillen Stunde, dachte sie, was wäre wohl aus mir geworden, wenn nicht damals Tante Dora den Durchblick gehabt hätte und auch den Mut, die Sache mit mir auszutragen.
Wie oft stellen Menschen unsere Lebensweichen um, und das Glück, das endgültig verloren erschien, stellt sich doch noch ein.

Und im tiefsten Innern wissen wir, dass es nicht der Zufall war, sondern der Gott, der alle liebt.

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