Harry Geldmann
oder 
Geld macht nicht glücklich


Wenn der Spruch der alten Lateiner 'Nomen est Omen' jemals auf jemanden zugetroffen hat, dann auf Harry Geldmann. Von Kind auf hatte er ein besonderes Verhältnis zum Geld. Wenn andere Kinder in seinem Alter mit der Eisenbahn oder Legosteinen spielten, dann beschäftigte er sich mit Geld.

Seine Eltern führten eine gut gehende Bäckerei, da fiel immer viel Kleingeld an, Ein- und Zweipfennigstücke und was es so an Münzen gab. In der Küche stand eine große Blechdose, die stets gut gefüllt war mit diesen kleinen Geldstücken. Das war Harrys liebstes Spielzeug. Mal baute er aus den Pfennigstücken einen Turm so hoch, bis er umfiel, ein anderes mal eine Säule aus Ein- und Zweipfennigstücken geradezu architektonisch gestaltet. Mal legte er mit den Geldstücken Tierfiguren auf die Tischplatte, mal Blumen oder irgendwelche Phantasiegestalten.

Als er größer geworden war, sammelte er neu herausgegebene Geldstücke, die noch edel glänzten und glitzerten, daran hatte er seine Freude. Zudem sammelte er verschiedene Gedenkmünzen. 
In de Schule war sein Lieblingsfach das Rechnen. Schließlich ging es dabei auch um Zahlen und um Geld. Seine Eltern überraschte er damit, dass er, bevor er in der Schule die Grundrechnungsarten gelernt hatte, bereits ausgerechnet hatte, wie viel Zinsen 100 DM erbracht hätten, wenn sein Urgroßvater diese zu 10 Prozent für ihn angelegt hätte.

So war es für alle ganz selbstverständlich, dass er nach der Schule eine Banklehre absolvierte, die er auch mit Auszeichnung bestand. In der Bank hätte er schnell Karriere machen können. Schon bald sollte er Abteilungsleiter der Kreditabteilung werden. Aber er bestand darauf, am Ein- und Auszahlungsschalter zu arbeiten. Er brauchte den direkten Kontakt zum Geld. Wenn er das Geld auszahlte und die Banknoten leise knisternd durch seine Finger glitten, empfand er ein geradezu körperliches Wohlbehagen. Das befriedigte ihn außerordentlich.

Mit der Zeit setzte sich ein Gedanke in ihm fest, der geradezu zu einer fixen Idee wurde. Er wünschte sich, einmal 100 000 DM zu besitzen. Dabei kam es ihm nicht auf den Geldwert an. Er liebte Geld und sammelte es, wie andere Bilder oder Kunstgegenstände. Keinen Pfennig hätte er von der gedachten Summe ausgegeben. Aber sie zu besitzen, jederzeit sie sich anschauen zu können sie in die Hand zu nehmen, das faszinierte ihn. Aber ihm war bewusst, dass er von seinem Gehalt in der Bank niemals 100 000 DM würde sparen könnte. Dabei lag das viele Geld so nah. Im kleinen Tresorraum der Bank wurde es aufbewahrt. 

Er überlegte ernsthaft, wie er an das Geld kommen könnte, der Wunsch, es zu besitzen, wurde in ihm übermächtig. Wenn es ihm gelingen würde, unbemerkt in den Raum zu kommen und das Geld an sich zu nehmen, würde niemand auf die Idee kommen dass er, ein angesehener Angestellter der Bank, das Geld genommen haben könnte. Aber natürlich schien das ein aussichtsloses Unterfangen. Zu diesem Raum hatten nur der Direktor und sein Stellvertreter Zugang. 

Außerdem war die Türe besonders gesichert. Sie besaß kein gewöhnliches Schloss, sondern an der Wand neben der Türe war ein kleiner Kasten angebracht, der eine Zahlenkombination enthielt ähnlich wie bei einem Tastentelefon. Eine sechsstellige Codezahl, die eingegeben werden musste, öffnete die Türe. Der Gedanke, in den Raum einzudringen, ließ Harry Tag und Nacht keine Ruhe mehr. Und bald hatte er einen Plan. Er musste den Code herausbekommen, das war das Allerwichtigste. Der kleine Kasten war aber mit einer Sichtschutzblende angebracht, so dass es unmöglich war, zu sehen, welche Zahl eingegeben wurde. Aber Harry kam eine Eigenschaft zu Hilfe, die noch nicht erwähnt wurde. Er war äußerst musikalisch und hatte ein absolutes Gehör, er konnte alle Töne genau unterscheiden. 

Er hatte die Feststellung gemacht, dass die Tasten jeweils einen kleinen Piepton von sich gaben, wenn sie niedergedrückt wurden. Seinem feinen Gehör fiel auf, das jede Taste einen etwas unterschiedlichen Ton verursachte. Wenn er herausbekommen würde, welcher Ton zu welcher Zahl gehörte, könnte der den Code knacken. Dazu hätte er aber an dem Codekasten experimentieren müssen. Das war aber unter normalen Umständen unmöglich. Aber eine Besonderheit des Banklebens kam ihm da zur Hilfe. Zur Mittagszeit wurde die Bank für eine Stunde ge­schlossen. Dann gingen die Angestellten in die naheliegenden Gaststätten oder Kantinen zum Essen. Der Chef bestand aber darauf, dass aus Sicherheitsgründen jeweils ein Angestellter in der Bank blieb.

Das war Harrys Chance. Mehrere Tage hintereinander über längere Zeit, erklärte er sich bereit, in der Bank zu bleiben. Jetzt konnte er den kleinen Kasten betätigen. Immer wieder drückte er die kleinen Tasten nieder und achtete genau auf die Pieptöne. Es dauerte lange Zeit, bis er sich sicher war, Ton und Zahl miteinander zu identifizieren. 281945 lautete seiner Meinung der Code. Nur bei der Neun war er sich etwas unsicher, sie war fast identisch mit der 0.

Natürlich konnte er in der Mittagszeit nicht in den Tresorraum eindringen. Zu leicht hätte er hier überrascht werden können. Deshalb hatte er einen anderen Plan. Des Abends, bei Geschäftsschluss, verschloss der Direktor persönlich den Haupteingang von innen. Die Angestellten verließen durch eine hintere Türe den Raum, die in einen Korridor zur stählernen Außentüre führte. Vom Korridor gingen noch die Türen zu den Toiletten und zu einem kleinen Abstellraum ab. Für die Zwischentüre hatte jeder Angestellte einen Schlüssel und war verpflichtet, bei jeden Betätigen der Türe diese wieder zu verschließen.

Harry hatte alles genau ausgeklügelt. Er wollte an einen Abend den Raum wie üblich durch die Hintertüre verlassen und sich in einem unbeobachteten Augenblick in der Abstellkammer verbergen. Wenn dann alle die Bank verlassen hätten, und es dunkel geworden war, könnte er in Ruhe versuchen in den Tresorraum einzudringen. Er würde sich das Geld holen und dann die Nacht in der Abstellkammer verbringen. Am nächsten Morgen brauchte er dann nur wieder einen günstigen Augenblick abzuwarten um über den Korridor wieder in dem Bankraum zu gelangen, so, als wäre er gerade von zu Hause gekommen. Der Bestand des Geldes wurde nicht täglich überprüft so dass er dann nach Feierabend das Geld mit nach Hause nehmen konnte. Da er alleine lebte, konnte es auch hier keine Schwierigkeiten geben. An einem Donnerstagabend verwirklichte er seinen Plan. Tatsächlich kam er unbemerkt in die Abstellkammer, wo einige alte Büromöbel und Computer abgestellt waren. 

Der Raum wurde nie verschlossen und selten hatte jemand dort etwas zu tun. 

Als es dunkel geworden war begab er sich in den Bankraum. 

Die Straßenbeleuchtung, die von draußen in den Raum drang, gab für sein Vorhaben genug Licht. In äußerster Spannung betätigte er die Zahlenkombination. Die Pieptöne waren für ihn wie eine kleine Melodie. Als er die letzte Zahl niedergedrückt hatte, versetzte er der Türe einen kleinen Stoß und sie öffnete sich. Ein Seufzer der Erleichterung entfuhr ihm.
Er ging in den Raum und packte die Geldscheine in seine mitgebrachte Tasche.

Er hatte sich vorher genau überlegt in welcher Zusammenstellung er das Geld mitnehmen wollte. Wie viel Tausender, Fünfhunderter usw. Sorgfältig legte er das Geld in seine Tasche. Ein eigenartiges Gefühl beschlich ihn dabei, endlich hatte er erreicht, wovon er so lange geträumt hatte.

Er ging zurück in den Abstellraum. Hier konnte er unbesorgt das Licht anknipsen, da es sich um einen fensterlosen Raum handelte. Er räumte einen alten Schreibtisch leer und breitete das gebündelte Geld darauf aus. Erst legte er es in der Reihenfolge ihres Wertes hin, dann traf er verschiedene Anordnungen und zählte immer wieder: 100 000 DM. Seine Augen bekamen einen fiebrigen Glanz, ein heißer Strom durchlief ihn, er war wie in einer anderen Welt. Immer wieder ließ er die einzelnen Scheine durch seine Finger gleiten und empfand dabei eine Art von Glücksgefühl, das er bisher nicht erlebt hatte. Bis weit nach Mitternacht zählte und sortierte, spielte und ordnete er die Scheine immer wieder neu oder konnte minutenlang einfach ihren Anblick genießen. 

Schließlich war er so erschöpft, dass er auf einen der alten Drehsessel Platz nahm und einschlief. Wegen de unbequemen Lage in der er sich befand, schlief er nur wenige Stunden. Als er erwachte, fiel sein erster Blick wieder auf das Geld. Er war einen Moment verwirrt und wusste kaum, was sich zugetragen hatte. Dann plötzlich war ihm wieder alles bewusst. Ihm war, als wenn er nicht nur aus dem Schlaf sondern wie aus einer Trance erwacht wäre. Plötzlich verstand er weder sein Begehren noch seine enorme Befriedigung die er gehabt hatte. Ihm wurde bewusst, dass er nichts anders war als ein Bankräuber. Die Tatsache, dass er dabei keine Gewalt hatte anwenden müssen, änderte nichts daran. Er fühlte sich wie ein Mensch, der in eine Sache eine große Erwartung gesetzt hatte und nun nach der Erfüllung einsehen musste, dass das kein Dauerzustand bleiben konnte, ja das daraus letztlich der Alltag werden würde, der alles Glücksgefühl zerstört. Er hatte sich unter ungewöhnlichen und illegalen Umständen ein Glücksgefühl verschafft und ihm war klar, dass es damit aus sein musste. 

Er packte dass Geld wieder in seine Tasche, betätigte noch einmal die Zahlenkombination an der Tresortüre und legte das Geld mit ruhigen Händen an seinen Platz zurück. Und zum ersten Mal verstand er die Bedeutung der Verse im 'Vater unser' Und führe uns nicht in Versuchung. 

Er wartete, bis er am Morgen seine Kollegen ins Bankgebäude kommen hörte und in einen unbeobachteten Augenblick verließ er den Abstellraum und betrat das Bankgebäude wie an jeden anderen Tag. Er empfand jetzt eine Befriedigung die er vorher nicht gekannt hatte und die ihn mehr befriedigte als alle anderen Gefühle, nämlich nicht das Außerordentliche zu suchen, sondern im Normalen das aufzuspüren, was glücklich macht. An diesem Tag war sein Strahlen beim Auszahlen des Geldes noch intensiver als es für gewöhnlich schon war.

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