Schwester Maren erlebt Weihnachten
Ein Weihnachtsmärchen


Am Heiligen Abend im Krankenhaus Dienst zu tun, ist keine beliebte Aufgabe bei den Krankenschwestern. So war auch Schwester Maren nicht gerade begeistert, als sie zum Frühdienst am Heiligen Abend eingeteilt wurde. Dienstzeit von 6 bis 14 Uhr. Da sie ledig war, sie wohnte im Hause der Großeltern, die ein kleines Eigentum haben, sah sie ein, dass die Schwestern, die Familie haben, an diesem Tage vom Dienst befreit wurden. Sie selbst hatte in den Tagen vor dem Fest schon manches vorbereitet, alles andere würde ihre Großmutter noch erledigen. Da sie ja schon verhältnismäßig früh Dienstschluss haben würde, könnte sie sich noch um die letzten Dinge kümmern und mit ihren Großeltern wie gewohnt gegen 18 Uhr die Weihnachtsfeier beginnen.

Der Morgen an diesem Tag verlief schnell. Es waren zwar nur wenige Patienten auf der Station, da sich alle, bei denen es eben möglich war, hatten beurlauben lassen. Oder sie waren einige Tage vorher entlassen worden. So waren nur die Schwerkranken zurückgeblieben, die aber besonders versorgt werden musste, da die Feiertage auf diese Patienten oft deprimierend wirkten.

Schwester Maren war in den Vormittagsstunden immer wieder durch die Zimmer gegangen, hatte geholfen, getröstet., hatte versucht, trotz aller Krankheit eine frohe und feierliche Atmosphäre zu schaffen. So war es bald Mittagszeit geworden. Nachdem die Patienten mit dem Mittagessen versorgt waren, es war inzwischen 13 Uhr geworden, richtete sich Schwester Maren innerlich schon auf die Abendfeier ein. Es war immer ein schönes, feierliches und auch gemütliches Fest gewesen, das sie seit etlichen Jahren, seit dem Tode ihrer Eltern, mit den Großeltern verbrachte.
Kurz nach 13 Uhr bat die Oberschwester Maren zu sich.

"Schwester Maren," eröffnete diese das Gespräch, "ich habe keine gute Nachricht. Schwester Hildegard, die sie ablösen sollte, hat einen Unfall gehabt und sich das Bein gebrochen. Natürlich kann sie nun keinen Dienst tun. Ich habe schon hin und her überlegt und auch schon telefoniert, ich kann keinen Ersatz bekommen.
Die einzigen, die dafür noch infrage kommen, sind sie und ich. Ich würde den Dienst auch selbst übernehmen, wenn nicht zwei Buben auf ihre Mutter warten würden. Ich wollte deshalb fragen...." Hier unterbrach Schwester Maren die Rede und erklärte: "Sie brauchen sich nicht weiter bemühen, Oberschwester. Ich übernehme dann den anschließenden Dienst auch noch. Meine Großeltern werden wohl nicht zu enttäuscht sein, sie haben allgemein viel Verständnis für solche Dinge. Ich werde sie gleich anrufen."

Die Großmutter bedauerte natürlich diese Situation, hatte aber durchaus Verständnis. "Stell dir vor, Maren," hatte sie gesagt, "einer von uns gehörte zu den Kranken, dann wären wir auch darauf angewiesen, dass jemand ein Opfer bringt. Und weißt du was, wir verschieben die Feier einfach um ein paar Stunden. Wenn du um 22 Uhr Dienstschluss hast, bist du ja 15 Minuten später schon hier und dann beginnen wir mit der Feier und sind bis über Mitternacht zusammen. Ich denke, das kann auch ganz schön werden."

Maren fand das eine gute Idee und war froh, dass eine solch gute Lösung gefunden worden war. 
Der Nachmittag verlief für sie schnell. Gegen 16 Uhr begann sie noch einmal einen Rundgang durch die Zimmer, wobei jeder Patient im Namen des Hauses noch ein kleines persönliches Geschenk bekam.
Kurz vor 18 Uhr, zu der Zeit wo sie sonst mit ihren Großeltern die Feier begann, war sie ziemlich erschöpft. Sie nahm sich vor, sich im Schwesternzimmer etwas auszuruhen. Vorher wollte sie aber noch einmal zum Zimmer 186 gehen, wo Frau Witkowski lag, eine Patientin, der es sehr schlecht ging. Der Arzt hatte ihr absolute Ruhe verordnet, deshalb war sie auf ein Einzelzimmer verlegt worden. Sie war erst 45 Jahre alt, litt an einer akuten Herzschwäche, die medizinisch nicht zu heilen war. Die Ärzte konnten nur ihren Zustand vorübergehend bessern. Vor einigen Tagen hatte sie wieder einen Anfall erlebt. Der Oberarzt hatte nach der Visite verlauten lassen, dass es für Frau Witkowski wohl das letzte Weihnachtsfest sein dürfte.
Als Maren das Zimmer betrat, lag die Patientin kurzatmig und erschlafft in ihrem Bett. Maren wusste, daß sie oft unter Angstzuständen litt.
"Wie schön, daß sie noch einmal kommen, Schwester Maren," hauchte sie leise. "Setzen sie sich doch bitte einen Augenblick an meinem Bett."
"Gerne, Frau Witkowski, ich habe gerade etwas Zeit."
Sie setze sich neben dem Bett auf einen Stuhl. Frau Witkowski ergriff Marens Hand und wurde augenblicklich merklich ruhiger.

Nach kaum einer Minute bemerkte Maren, dass die Patientin eingeschlafen war. Sie wollte deren Hand loslassen, aber sobald sie nur eine Bewegung machte, wurde die Patientin wieder unruhig.
Maren entschloss sich deshalb, einige Zeit so bei der Patientin sitzen zu bleiben. Da sie aber sehr abgespannt war schlief auch sie nach einigen Augenblicken ein und verfiel in einen Traum.

Ihr träumte, dass sie sich, wie es ja in der Wirklichkeit auch war, im Zimmer der Frau Witkowski befand. Allerdings stand sie neben deren Bett und schaute zum Fenster und dem vorgelagerten Balkon. Hier bemerkte sie plötzlich einen schwachen Lichtschimmer, der langsam heller und heller wurde und schließlich sich der Balkontüre näherte, die plötzlich, ohne ein Geräusch zu verursachen, aufsprang. Dann vernahm sie ein geheimnisvolles Rauschen, wie von vielen Flügeln, das Licht wurde immer heller und bewegte sich zur Mitte des Zimmers, wo es stehen blieb. In dem hellen Lichtschein wurde dann mehr und mehr der Umriss einer Gestalt deutlich, die endlich selbst ganz vom Licht umstrahlt im Raume stand. Gekleidet in einem langen weißen Gewand, blonde, lockige Haare, die bis auf die Schulter fielen, und dann, Maren nahm es verwundert wahr: zwei Flügel waren deutlich zu erkennen. Ein Engel! Maren erschrak heftig, nicht so sehr aus Angst sondern es war mehr Ehrfurcht, die sie erzittern ließ. Der Engel sprach nichts, schaute aber Maren freundlich an. Dann kam er mit langsamen, majestätischen Schritten auf das Bett von Frau Witkowski zu, nahm diese behutsam aus dem Bett auf seine Hände und ging mit ihr zur Balkontür zurück, wobei wieder ein großes Rauschen hörbar wurde. 

Der Engel stand auf dem Balkon, bewegte seine Flügel und erhob sich in die Lüfte.
Schwester Maren war unfähig gewesen, einen Gedanken zu fassen. Bevor sie sich besinnen konnte, merkte sie, dass ein weiteres Licht im Raum aufleuchtete und bald darauf sah sie einen weiteren Engel, der ihr freundlich zuwinkte, dann Hand ausstreckte mit einer Geste, die bedeutete, dass sie zu ihm kommen solle. 
Maren ging mit zaghaften Schritten aber ohne Angst auf den Engel zu und fasste seine Hand. Was dann geschah, konnte sie später nicht mehr genau sagen. Es war wie ein lautloses Schweben und ehe sie sich versah, befand sie sich im Wohnzimmer der Großeltern, ohne dass sie sich an das vorhergehende Geschehen erinnert hätte. Es schien allen selbstverständlich zu sein, dass sie zu Hause war. Als sie auf die Uhr schaute, zeigte sie 18,15 Uhr.
"Maren," erklärte ihre Großmutter, "sollen wir nicht bald mit der Feier beginnen?"
"Weißt du, Großmutter," hatte Maren gesagt, "mir gehen die ganze Zeit die beiden alten Leute von nebenan, die Albrechts, nicht aus dem Sinn. Ich habe ihn gestern gesehen, er sah recht schwach aus und seine Frau soll es auch nicht gut gehen. Als ich ihn nach Weihnachten fragte, antwortete er, dass es wohl keine Feier bei ihnen geben werde. Nicht einmal einen Weihnachtsbaum hatten sie holen können, weil sie einfach zu schwach seien. Sollten wir sie nicht zu uns herüber holen? Es ist noch genug im Kühlschrank, um genug zum Abendessen auftischen zu können."
"Das ist eine gute Idee, Maren," hatte die Großmutter geantwortet. "Vielleicht sollten wir dann auch noch den jungen Studenten herunter bitten, er ist auch ganz alleine."
"Einverstanden," hatte Maren erklärt und war sofort zu den Albrechts herüber gegangen, während die Großmutter dem Studenten Bescheid sagte. Alle kamen gerne. Der Student, der im Hause der Großeltern ein Dachzimmer gemietet hatte, studierte Musik. Er brachte seine Violine mit und er spielte die Weihnachtslieder so schön, dass alle freudig mitsangen. Maren hatte den Eindruck, dass die Stimmen der alten Leute wie junge klangen.
Das Abendessen verlief in ungewöhnlicher Harmonie und es war mehr da, als man verzehren konnte. Gegen 21 Uhr verließen die Gäste mit vielen Dankesbezeigungen das Haus. Maren brachte die Albrechts noch nach Hause. Als sie wieder vor der Haustüre ihrer Großeltern stand, spürte sie plötzlich eine Hand, die sich schwer auf ihre Schulter legte. Sie zuckte zusammen und... erwachte.

Mein Gott, fuhr es ihr durch den Sinn. Ich bin eingeschlafen, in der Dienstzeit, das hätte mir nicht passieren dürfen. Aber welch schöner Traum, dachte sie. Dann erst bemerkte sie, dass die Hand noch immer auf ihrer Schulter lag. Sie sah sich um und schaute in die Augen von Frau Witkowski, die wohlausse­hend und in ihrer normalen Bekleidung hinter ihr stand.
"Um Gottes willen, Frau Witkowski," sagte sie erschrocken. "Sie hätten nicht aufstehen dürfen, das kann ihnen das...." sie stockte einen Moment und fuhr fort: 
"ich meine, das kann zu ihrem Schaden sein:"
"Ich weiß schon, Schwester Maren," ließ sich Frau Witkowski vernehmen, was sie sagen wollten. Es hätte mich das Leben kosten können. Das hat bis vor ein paar Minuten auch noch gestimmt. Aber inzwischen ist etwas Wunderbares passiert, Schwester Maren. Sie waren wohl gerade eingeschlafen, gerade so wie ich, als es passierte. Ich wurde aber von einem hellen Licht hier im Zimmer aufgeweckt. Und stellen sie sich vor, ein Engel stand mitten im Raum. Er kam auf mich zu, nahm mich ganz behutsam auf seine Arme, ging mit mir auf den Balkon und dann, ja ich weiß nicht, was genau geschah. Es war mit wie ein lautloses Schweben, ich wusste nicht, wie mir geschah, verspürte aber keinerlei Furcht. Und mit einem Mal war ich..., ja, ich war im Himmel! Es war ein großer Raum, alles golden und silbern. Und in der Mitte stand ein großer weißer Thron. Und auf dem Thron saß er: Jesus !"
"Sie haben Jesus gesehen?" fragte Maren verwundert.
"Ja,.. das heißt, ich sah den weißen Thron und auf dem Thron saß eine Gestalt. Eigentlich war es nur ein helles Licht, wie eine Gestalt. So hell und weiß, wie ich noch kein Licht gesehen habe. Und obschon es so hell und weiß war, blendete es nicht. Es strahlte eine wohlige Wärme aus.
Vor dem weißen Thron lag ein großes weißes Laken. Darauf legte mich der Engel. Dann hörte ich Seine Stimme: 'Mein Kind', hörte ich sagen. 'ich habe deine Gebete gehört, und heute, am Heiligen Abend, dem Abend vor meiner Geburt, soll dir Heil widerfahren: Sei gesund.'

Der Engel hatte neben mir gestanden und rief mir zu: 'Stehe auf'! Ich wagte nicht, mich zu bewegen, weil ich ja über meine Krankheit wusste und keine Änderung spürte. 'Steh auf', wiederholte der Engel und streckte mir seine Hand entgegen, die ich erfasste. In diesem Augenblick spürte ich einen warmen Strahl durch meinen Körper laufen. Ich erhob mich, fühlte eine ungewohnte Kraft in mir und ich wusste: Ich bin gesund. Und dann, ich weiß nicht wie, stand ich wieder in meinem Zimmer."

Maren hatte gespannt und interessiert zugehört. Sie wagte gar nicht zu sagen, dass sie den ersten Teil des Berichtes genau so erlebt, nein geträumt? hatte. Sie war ganz durcheinander. Träumte sie immer noch? Aber dann sah sie die gesunde Patientin an und wusste, das ist die Wirklichkeit.


"Dabei bin ich eigentlich nicht besonders fromm," erklärte Frau Witkowski sinnend, "obwohl ich in meiner Krankheit oft um Heilung gebetet habe. Wissen sie, Not lehrt beten."
"Ich freue mich so für sie, Frau Witkowski," erklärte Maren und umarmte die Glückliche. Aber ich werde sofort den Arzt benachrichtigen, um jedes Risiko auszuschalten. Der Arzt konnte nur bestätigen, dass er im Augenblick keine Krankheitssymptome feststellen könne.

Maren ging sehr nachdenklich an ihre Arbeit. Sie hatte, als sie aufwachte, kurz auf die Uhr geschaut und festgestellt, dass sie nur einige Minuten eingenickt war. Sie konnte sich das alles nicht erklären. Hauptsache, dachte sie, dass die Patientin gesund ist. Und ich habe wenigstens im Traum schon ein schönes Weihnachten erlebt.

Die Zeit bis zum Dienstschluss verging schnell und ihre Ablösung traf pünktlich ein, so dass sie Punkt 22 Uhr das Krankenhaus verlassen konnte. Mit schnellen Schritten begab sie sich zum Hause der Großeltern. Als sie durch die Haustüre trat und ins Wohnzimmer schaute, war sie eigenartig berührt. Die Kerzen am Weihnachtsbaum waren heruntergebrannt, die Geschenke lagen schon ausgepackt auf dem Gabentisch und auf dem Esstisch standen bereits geleerte Schüsseln und Teller. Sie war mehr als nur erstaunt. Hatten die Großeltern trotz der Absprache ohne sie gefeiert?

In diesen Augenblick trat die Großmutter ins Zimmer. "Großmutter," fragte Maren und bemühte sich, ihrer Stimme einen neutralen Klang zu geben, "was ist hier vorgegangen?"
"Seitdem du vor gut einer Stunde weggegangen bist, nichts mehr, wie du siehst. Auch der Abwasch wartet noch auf uns beide. Weißt du, Maren, als du kurz nach 18 Uhr hier eintrafst und uns mitteiltest, dass du doch noch eine Vertretung bekommen hättest, nur gegen 21 Uhr noch einmal zurück ins Krankenhaus müsstest um nach dem Rechten zu schauen, waren wir doch sehr froh. 

Und deine Idee mit den Albrechts, es war der gelungenste Heiligabend, den ich erlebt habe. Was haben sich die alten Leute gefreut! Und wie schön hat der junge Mann gespielt, und ich habe lange nicht mehr so froh und frisch singen können. Auch Großvater ist ganz glücklich. Und siehst du, wenn du nicht so früh hättest kommen können, hätten wir den alten Leuten und dem jungen Mann die Freude nicht bereiten können. Der liebe Gott hat alles ganz richtig gemacht."

Und ohne Marens erstauntes Gesicht wahrzunehmen begann sie, aufzuräumen.
Maren war ganz still geworden. Sie trat an den Weihnachtsbaum, der auf einem kleinen Tisch neben dem Fenster, stand. Darunter war eine Krippe aus schönen Keramikfiguren aufgebaut. Maria und Josef, die Hirten und sogar die Weisen aus dem Morgenland standen da. Und natürlich auch Ochs und Esel und einige Schafe. Und mitten drin das Jesuskind in der Krippe. Maren schaute nachdenklich auf das Kind. 

"Nicht nur vor zweitausend Jahren geschah ein himmlisches Wunder um dieses Kind. Ich habe es heute auch erlebt," sprach sie leise vor sich hin. Dabei war es ihr, als wenn das Kind in der Krippe sie lieblich lächelnd ansah und alle Krippenfiguren mit ihm. Sie schloss einen Moment die Augen. Träumte sie immer noch? Als Maren die Augen wieder aufschlug sah sie nur, dass alle Figuren wieder den ernst-feierlichen Ausdruck in ihren Gesichtern trugen. 

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