Norbert
oder
Das gebrannte Kind


Norbert Büchner war mit seinen 29 Jahren noch ledig und zur Zeit auch ohne feste Beziehung. Die Freundschaft mit einem jungen Mädchen war vor kurzem auseinandergegangen. Die Freundin hatte geäußert, dass Norbert an eine Beziehung, wie überhaupt an Liebe, Ehe und Familie, überhöhte Ansprüche stelle, die sie nicht, und ihrer Meinung nach auch keine anderer Frau, erfüllen könne.

Es ist durchaus möglich, dass sie damit recht hatte. Norbert war nämlich das, was man ein 'gebranntes Kind' nennt. Als er 12 Jahre alt war, hatte der Vater wegen einer anderen Frau die Familie verlassen . Er hatte sich nie mehr um seinen Sohn gekümmert. Seine Mutter hatte sich die Trennung so zu Herzen genommen, dass sie depressiv wurde und bis heute, nach so vielen Jahren, immer noch darunter litt.
Das alles war an Norbert nicht spurlos vorübergegangen. Für ihn kam nur absolute Ehrlichkeit und Treue in einer Beziehung in Frage.

So lebte er jetzt sehr solide und zurückgezogen in einem kleinen Haus, das mitten im Ruhrrevier in einem Landschaftsschutzgebiet stand. Die Straße, die zum Haus führte, eigentlich war es nur ein breiterer Waldweg, wurde hinter dem Haus zu einem schmalen Spazierweg. An dieser Straße standen nur drei Häuser, in Abständen von etwa 100 Metern. Hinter dem Haus, in dem Norbert und seine Mutter wohnen, beginnt ein größeres Waldgebiet. Die Häuser an der Straße liegen in einer großen Lichtung, landschaftlich ein schönes Stückchen Erde. Der Weg vor dem Haus war ein Geheimtipp. Nur wenigen war der romantische Pfad bekannt, der auch nicht von Autos befahren werden durfte. So waren Spaziergänger hier eine Seltenheit und fielen den wenigen Bewohner schnell auf.
Norbert saß oft nach Feierabend, er arbeitete in einer Schreinerei, in seinem Zimmer zur Straßenseite und las, bastelte, hörte Musik oder schaute einfach in die schöne land­schaftliche Kulisse. Manchmal beschäftigte er sich auch in dem vor dem Hause liegenden kleinen Blumengarten.

An einem Mittwochnachmittag saß er wieder einmal an seinem Fenster und schaute ins Land, als sich auf dem Weg ein Paar näherte, offensichtlich ein Liebespaar. Die beiden gingen eng umschlungen den Pfad hinunter, plauderten und lachten, blieben alle zehn oder zwanzig Meter stehen und küssten sich, bevor die weitergingen.
Er war ein mittelgroßer Mann, etwa 45 Jahre alt, graue Schläfen im schwarzen, welligen Haar, kleiner Bauchansatz, aber sonst noch sportlich wirkend.

Sie, höchstens 20 Jahre alt, klein und zierlich, nett aussehend, blondes, langes Haar, beide gut gekleidet. Wegen des offensichtlichen Altersunterschiedes fielen sie Norbert auf.
Mit der Zeit wurde er gewahr, dass das Paar jeden Mittwoch am späten Nachmittag auf diesen Weg spazieren ging. Auch Norberts Mutter war das Paar aufgefallen und sie nannten es unter sich scherzhaft das 'Mittwochspärchen'.
Das alles wäre nicht besonders berichtenswert und hätte nicht Bedeutung für Norbert gehabt, wenn er nicht an einem Sonntagnachmittag eine weitere Beobachtung gemacht hätte. Er hielt sich gerade in dem kleinen Vorgarten auf, wo er, es war im Juni, die Blütenpracht auf den Beeten bewunderte, als sich eine Spaziergängergruppe dem Hause näherte. Offensichtlich eine Familie. Familien hatten für Norbert immer etwas schmerzlich-anziehendes. War es doch sein großer Wunsch, einmal eine eigene kleine Familie zu haben. So schaute er sich unwillkürlich diese Familie interessiert an, zudem alle einen munteren und fröhlichen Eindruck machten, als sie lachend und trällernd zu ihm herankamen. 
Da waren zwei Kinder, ein Junge und ein Mädchen, vielleicht 10 und 12 Jahre alt, die fröhlich von einem Wegrand zum anderen liefen, hier eine Blume pflückten, dort ein besonderes Gras entdeckten und nebenbei den Eltern etwas zuriefen.

Sie, etwa 35 Jahre alt, eine attraktive, moderne Frau mit kurzem, dunkelblonden Haar, einem feinen Gesicht und tadelloser Figur.
Er, etwa Mitte der Vierzig, mittelgroß, etwas Bauchansatz und graue Schläfen... An dieser Stelle konnte Norbert nicht weiter registrieren, täuschte er sich oder hatte er recht? Das war doch..., oder war er es nicht - der Mann von dem 'Mittwochspärchen'!?
Bevor er sich richtig vergewissern konnte, war die Familie vorübergegangen und er sah die Personen nur noch von hinten.
Vielleicht war es auch nur eine gewisse Ähnlichkeit, dachte er bei sich. Die Stirn wird doch keiner haben, am Mittwoch mit seiner Geliebten und am Sonntag mit seiner Familie den selben Weg spazieren zu gehen.
Aber am nächsten Mittwoch wurde seine ursprüngliche Vermutung weiter verstärkt und am Sonntag endgültig bestätigt: es war derselbe Mann!

Norbert war tief empört. Hier betrog eine Mann nicht nur seine Frau, sondern hier stand eine Familie in der Gefahr, den Vater zu verlieren und er, Norbert, wusste zu genau aus eigener Erfahrung, was das für die Beteiligten bedeuten würde. Dieser Gedanke ließ ihn nicht mehr los, und je öfter er die Personen sah, desto mehr verfestigte sich der Gedanke, dass er etwas tun müsse.
Es wiederholte sich in den nächsten Wochen am Mittwoch und Sonntag jeweils das Gleiche. Einmal erschien Herr X mit seiner Geliebten und dann wieder mit seiner Familie.
Schließlich kam Norbert zu einem Entschluss: Dem Mann musste man einen Denkzettel verpassen. Und Stück für Stück vollendete sich in seinen Gedanken der Plan, den er sofort in die Tat umzusetzen begann. 
Am nächsten Mittwoch hielt er sich zur fraglichen Zeit im Vorgarten auf, mit einer Kamera ausgerüstet und schoss, in Deckung eines Vorgartenstrauches, ein Bild von dem Liebespaar. Für den nächsten Sonntag hatte er sich besonders­ präpariert. Er zog sich ausgehfertig an, hatte Papier und Bleistift eingesteckt, hielt sich aber zunächst im Vorgarten auf und nahm mit seiner Kamera ein Bild von der 'glücklichen Familie' auf. Dann verließ er das Grundstück und folgte der Gruppe.

Mehr als eine Stunde musste er gehen bis die Familie an ih­rem Ausgangspunkt angelangt war, einem Waldparkplatz. Norbert hatte damit gerechnet, dass die Familie mit dem Auto aus der nahen Stadt angereist war und er sich die Autonummer notieren konnte in der Hoffnung, darüber die Adresse des Halters erfahren zu können. 
Aber er hatte mehr Glück als erwartet. Die Familie fuhr einen Wagen, der eine Werbeaufschrift trug: Weinhandlung Krüger Hindenburgstraße 37, und auch die Stadt und die Telefonnummer waren angegeben. Norbert notierte sich alles sorgfältig und unauffällig.

Am Montag klingelte in der Weinhandlung Krüger mal wieder das Telefon. Eine junge Männerstimme verlangte Frau Krüger zu sprechen, worauf die Sekretärin erklärte, dass Frau Krüger grundsätzlich nicht im Geschäft sei und nur privat zu errei­chen sei, da sie Haus und Kinder versorge.
Norbert, er war der Anrufer, war mit dieser Auskunft sehr zufrieden. Er wollte, wenn er sich mit Herrn Krüger in Verbindung setzte, gewiss sein, dass seine Frau nichts davon erfahren würde.
Noch am gleichen Tag setzte sich Norbert hin und schrieb einen Brief: 

Sehr geehrter Herr Krüger. 
In der Anlage übersende ich ihnen zwei Fotos. Ich nehme an, dass sie an den Bildern und besonders an den Negativen interessiert sind. Um das weiter zu besprechen, werde ich sie am Donnerstag um 12,30 Uhr in Ihrem Büro anrufen. Einer, der es gut mit Ihnen meint.

Pünktlich um 12,30 Uhr verlangte am nächsten Donnerstag ein junger Mann Herrn Krüger persönlich am Telefon zu sprechen. Als die Sekretärin ihn ohne Namensnennung nicht verbinden wollte, drang er darauf. "Sagen sie nur, es geht um die Bilder," erklärte er.
"Hier Krüger, wer sind sie, was wollen sie?"
"Wenn sie unbedingt einen Namen wissen wollen, dann nennen sie mich Meier. Was ich will? Nun ich möchte sie fragen, was ihnen die Bilder, oder besser gesagt, was ihnen ihre Ehe und Familie wert sind."
"Und wenn ich nicht interessiert bin, Herr Meier?" ließ sich Herr Krüger vernehmen, "was dann?"
"Dann, nehme ich an, kann ich ihre Frau dafür interessieren. Also, sie können wählen!"
"Wissen sie, dass das, was sie da vorhaben, eine gemeine Erpressung ist, junger Mann?"
"Ich glaube," antwortete Norbert, jetzt sehr hart und kalt, "dass wir nicht darüber zu diskutieren brauchen, wer hier gemein handelt, oder? Leider ist es ja so, dass jemand, der einen gewissenlosen Menschen wie sie in die Pflicht nehmen will, strafrechtlich verfolgt werden kann. Aber wenn jemand eine ganze Familie ins Unglück stürzt, kommt er ungeschoren davon. Also, Herr Krüger, entscheiden sie sich." 
"Natürlich, sie sitzen am längeren Hebel. Also, wie viel wollen sie?" "Ich sagte ihnen schon," erwiderte Norbert, "ich will wissen, wie viel ihnen ihre Ehe und Familie wert sind und da dachte ich, dass 20 000 DM angebracht wären." 
Man hörte am anderen Ende der Leitung den Gesprächspartner deutlich schlucken. 
"Hören sie mal, 20 000 DM sind auch für mich viel Geld, das fällt mit sehr schwer. Aber ich nehme an, dass es zwecklos ist, mit ihnen zu handeln. Sie bekommen das Geld und ich die Bilder und die Negative. Wie soll es weitergehen?"
"Nun, ich gehe davon aus," ließ sich Norbert vernehmen, "dass sie noch weniger Interesse daran haben die Polizei zu verständigen, als ich. 

Deshalb machen wir es ganz einfach. Ich werde am Montag einen Freund von mir, einen Herrn Bertram, zu ihnen schicken. Er weiß nur, dass er bei ihnen Ware abholen soll. Er übergibt ihnen die 'Bestellung' im ge­schlossenen Umschlag, in dem sich die Negative befinden. Sie packen ihm drei Flaschen Wein ein und legen das Geld dazu. Erst wenn alles ordentlich abgewickelt ist, übersende ich ihnen die Bilder, damit sie nicht auf dumme Gedanken kommen. Ich garantiere ihnen, dass es dann keine weiteren Bilder gibt. Insofern müssen sie mir schon vertrauen."
"Gut," stieß Herr Krüger hervor, "wickeln wir es so ab." Dann erfolgte eine kurze Pause und er ließ sich noch einmal vernehmen: "Hören sie mal, Herr Meier oder wie immer sie heißen mögen, ich bitte sie inständigst, es mit dieser Aktion wirklich gut sein zu lassen. Ich will es ihnen nicht einmal anrechnen, dass sie sich ihr Wissen bezahlen lassen. Aber wenn es auch anders aussehen mag, ich liebe meine Frau und meine Kinder. Bitte lassen sie uns jetzt in Frieden."
"Ich höre das sehr gern und verspreche ihnen, dass ich sie nicht mehr behellige, wenn sie dieses unselige Verhältnis beenden. Dann habe ich ja auch, das ist klar, keinen Grund mehr." Damit beendete Norbert das Gespräch.
Am nächsten Montag ging Norbert selbst um die Mittagszeit in die Weinhandlung Krüger, stellte sich als Herr Bertram vor, übergab den verschlossenen Brief und nahm ein wohlverpacktes Weinkästchen in Empfang. Alles ging fast wortlos und schnell vonstatten. Zu Haus stellte Norbert fest, dass sich in dem Kästchen genau 20 000 DM befanden und drei Flaschen Wein zu je 14,50 DM

Nun könnte die Geschichte an dieser Stelle zu Ende sein und wir hätten lediglich ein kleines Gaunerstück von einem nicht gerade tadellosen jungen Mann kennen gelernt. Aber dann hätten wir Norbert nicht wirklich erkannt. Sein Plan war mit dieser Aktion durchaus nicht abgeschlossen. Allerdings gestaltete sich der Abschluss recht schwierig. Er hatte stundenlang, ja tagelang darüber nachgedacht, wie er die Endphase seines Planes durchführen könnte, hatte aber keinen Weg gefunden, als ihm der Zufall zu Hilfe kam. 
Er beobachtete jeden Mittwoch und Sonntag den Weg vor dem Haus. Die sonntägliche Familie erschien weiterhin regelmäßig jede Woche und Norbert, der sie heimlich beobachtete, hatte den Eindruck, als wenn Herr Krüger gelockerter und befreiter wirkte.

Das 'Mittwochspärchen' war nicht mehr zu sehen. Aber, das, sagte sich Norbert zu recht, besagte nicht viel. Sie werden einen anderen Weg nehmen, oder, die vage Hoffnung bestand, Herr Krüger hatte das Verhältnis mit dem jungen Mädchen tatsächlich beendet. Er sann auf einen Weg, das herauszufinden, aber ohne Ergebnis.
Dann kam der erwähnte Zufall. Etwa zwei Monate später, an einem Mittwoch, Norbert hatte seine bewusste Beobachtungen bereits eingestellt, sah er des Nachmittags ein Liebespaar den Weg entlang kommen. Sie, jung, schlank und zierlich, Anfang der Zwanzig, langes blondes Haar: die Frau des 'Mittwochpärchens'! Aber er, ein junger, etwa gleichaltri­ger Mann, groß, drahtig und gutaussehend, hatte das Mädchen um die Taille gefasst und plaudernd und lachend gingen sie am Haus vorüber, blieben immer wieder stehen, küssten sich und waren allem Anschein nach sehr verliebt. Noch nie hatte Norbert mit solch einem Wohlgefallen ein Liebespaar beobachtet. 
Einige Tage später traf in der Weinhandlung Krüger ein eingeschriebenes Päckchen ein, an Herrn Krüger persönlich.. Als dieser das Päckchen öffnete, stieß er eine kurzen Laut der Überraschung aus. In dem Päckchen befand sich ein größeres Bündel Geldscheine und ein Brief:

Sehr geehrter Herr Krüger,
als ich Ihnen bei meinem ersten Anruf sagte, dass ich wissen wollte, was Ihnen Ihre Ehe und Familie wert sind, konnte ich Ihnen nicht klar machen, dass es mir nicht um den Wert des Geldes ging, sondern um den ideellen Wert Ihrer Ehe und Familie. Ich bin selbst in einer auseinandergerissenen Familie aufgewachsen und wusste, was auf Ihre Familie zukommen würde. Ich hatte kein anderes Mittel auf Sie einzuwirken, als Ihnen Geld abzuverlangen. Leider bringt oft nur das Geld, das sie investieren müssen, Menschen zur Besinnung.
Da ich inzwischen überzeugt bin, dass Sie das Verhältnis aufgegeben haben, ist der eigentliche Zweck meines Planes erreicht und ich übersende Ihnen hiermit 20043,50 DM. Und zwar 20 000 DM als Rückerstattung und 43,50 für drei Flaschen Wein zu je 14,50 DM.
Ich wünsche Ihnen und Ihrer Frau noch viele glückliche Ehejahre und Ihnen beiden Freude an Ihren Kindern.
Einer, der es gut mit Ihnen meint.

Als Herr Krüger den Brief gelesen hatte, murmelte er halblaut vor sich hin: "Entweder ist er ein Verrückter oder ein moderner Heiliger. Aber wenn ich es mir recht überlege, tendiert er doch mehr zum Letzteren."

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