Im Restaurant

Das Restaurant war um die Mittagszeit gut besucht. Die Kellner liefen eifrig hin und her um Bestellungen entgegenzunehmen und die Speisen zu servieren.

An den Tischen saßen meist gutgekleidete Leute, viele aus den benachbarten Büros der Behörden und Institutionen. Wenn man sich genauer umsah, bemerkte man einen Mann mittleren Alters, der auffallend schlecht gekleidet war. Verknittertes Hemd, schmuddelige, unordentlich gebundene Krawatte, der Jacke sah man ihr beträchtliches Alter an. Aber der Mann ließ sich sein Mittagsmahl offensichtlich gut schmecken. Nachdem er auch seinen Nachtisch verspeist und sein Glas Wein geleert hatte, saß er einen Augenblick still vor sich hinblickend auf seinem Platz, dann hob er seinen Blick und schaute sich interessiert in dem Raum um, so, als wenn er die Anwesenden nach irgendwelchen Gesichtspunkten testete.

Dann stand er plötzlich auf, blieb aber an seinem Tisch stehen und klopfte mit seiner Gabel vernehmlich an sein Weinglas. Einige Gäste schauten neugierig auf, andere hatten das Klopfen wohl nicht gehört. So meldete sich der Mann mit lauter Stimme:

"Hallo, verehrte Gäste," begann er und nun merkten fast alle Gäste auf, "meine Damen und Herren," fuhr er fort, " ich habe in diesem Lokal gut gegessen, aber ich muss ihnen und der Restaurantleitung ein Geständnis machen. Ich habe kein Geld, um die Zeche zu bezahlen. Ich hatte einfach Hunger und da...! Wenn ich nun die Rechnung nicht bezahle, werde ich wegen Zechprellerei angezeigt. Das kann bedeuten, dass ich wegen dieses Essens ins Gefängnis muss. Deshalb bitte ich sie: wer von ihnen wäre bereit, meine Zeche zu bezahlen um mir eine Bestrafung zu ersparen? Die Rechnung beträgt 65 DM".

Die Gäste hatte zunächst mit zunehmendem Interesse zugehört. Als der Mann geendet hatte und sich hilfesuchend umblickte, reagierten die Gäste sehr unterschiedlich. Die meisten schienen peinlich berührt und taten so, als wenn sie die Unterbrechung gar nicht bemerkt hätten. Andere sagten halblaut vor sich hin: "unmöglich..., unverschämt." Andere lachten und machten offensichtlich ihre Witze über den Mann, der immer noch etwas hilflos an seinem Tisch stand.
Nach kurzer Zeit war wieder alles beim alten. Keiner kümmerte sich um den Mann, der sich wieder auf seinen Platz gesetzt hatte.

Aber aus der hinteren Ecke des Lokals stand ein Herr auf, wie alle anderen gut und unauffällig gekleidet. Jünger als der Zechpreller. Er durchquerte den Raum und ging auf den Mann zu und setzte sich zu ihm an den Tisch.
"Guten Tag, ich habe ihren Aufruf gehört, ich bin bereit, ihre Zeche zu bezahlen. Aber sicher sind sie so freundlich und sagen mir, wie sie zu dieser Aktion gekommen sind, die doch reichlich ungewöhnlich ist und nicht unbedingt gut ausgehen musste. Was haben sie sich dabei gedacht, was haben sie bei ihrem Aufruf empfunden? Haben sie das schön öfter gemacht? Mit welchem Erfolg?"

"Halt, halt," meldete sich der Zechpreller zu Wort. "Ich habe nämlich auch einige Fragen an sie. Wie kommen sie dazu, einem wildfremdem Menschen, der ihnen nicht gerade vertrauenswürdig erscheinen muss, zu helfen? Was versprechen sie sich davon? Ist das alleine Nächstenliebe, oder was. War ihnen das nicht peinlich, zu mir zu kommen?"

"Einen Augenblick", unterbrach ihn jetzt der Jüngere, "sie reden und fragen wie ein Profi. Also, um die Sache zu klären, ich bin Journalist. Ich schreibe für die 'Süddeutsche' und bin ständig auf der Suche nach interessanten Leuten für meine wöchentliche Reportage: 'Ungewöhnliche Menschen mitten unter uns'. Nun ja, und als ich ihr Anliegen hörte, fand ich das ganz interessant, und wenn sie mir noch ein Interview gewähren, kann es für mich eine ganz gute Story geben. Das war und ist mir schon 65 DM wert. Und wenn es sein muss, zahle ich ihnen noch ein kleines Honorar dazu, wenn sie mir mehr über sich erzählen".

Im Gesicht des Zechprellers hat sich zunächst leises Erstaunen gezeigt. Mehr und mehr verzog sich dann sein Gesicht zu einem breiten Grinsen. Kaum, dass sein Gegenüber geendet hatte, brach er in schallendes Gelächter aus, so dass die übrigen Gäste schon wieder aufmerkten. Deshalb beruhigte er sich schnell und erwiderte, noch immer mit einem kaum zu unterdrückendem Lachen in der Stimme: 

"Journalist sind sie, von der Süddeutschen? Also das ist das Beste, was ich in meiner Laufbahn erlebt habe. Ich bin nämlich auch Journalist, ich schreibe für den Abendkurier. Und ich suche eine Story für die Wochenendausgabe über die Frage: 'Wie hilfsbereit sind die Bürger unserer Stadt in ungewöhnlichen Situationen'. Und da habe ich mir eben diese scheinbare Zechprellerei ausgedacht, natürlich mit der Restaurantleitung abgesprochen.

Also, dass ist zu komisch, da haben sich also zwei Journalisten ohne es zu wollen, gegenseitig hereingelegt. Ich fürchte, dass unsere Leser nun keine Story der von uns gedachten Art zu lesen bekommen werden. Allerdings, wenn wir die Story schreiben, die sich gerade hier abgespielt hat, ist sie wohl interessanter als die, die ich konstruieren wollte. Also, nichts für ungut, aber ich muss ins Büro zurück. Viel Glück für eine neue Story!"

Damit verabschiedete sich der vermeintliche Zechpreller. Der Zurückgebliebene saß noch einen Augenblick nachdenklich lächelnd am Tisch, als der Kellner kam.
"Sie möchten sicher zahlen?" erkundigte sich dieser. 

"Nein, ich habe schon gezahlt, ich saß an dem Tisch dort drüben, dort hat mich ihr Kollege bedient und dort habe ich auch bezahlt." "Aber der Herr, der hier mit ihnen am Tisch saß, hat nicht bezahlt. Er sagte, dass sie...?"

"Schlitzohren, die von der Süddeutschen," murmelte der Angesprochene leise vor sich hin.
"Wie bitte?" fragte der Kellner zurück.

"Alles in Ordnung, ich zahle." Er blätterte 70 DM auf den Tisch. "Der Rest ist für sie," erklärte er und verließ mit einem Kopfschütteln das Lokal.  

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