Das Salz
oder
Am Heilig-Abend


Die Advent- und Weihnachtszeit bringt viel Geschäftigkeit und Arbeit mit sich. Das kann nicht anders sein, wenn man anderen eine Freude machen und feiern will, wie es fast überall ein schöner Brauch ist.

Aber über alle Äußerlichkeiten kann man oft das Wichtigste, die innere Vorbereitung, vergessen. So wäre es wahrscheinlich auch der Familie Vollmer ergangen, wäre nicht an jenem Heiligabend die Situation eingetreten, von der jetzt berichtet werden soll.

In der geräumigen Küche der Vollmers herrschte reges Treiben. Leopold Vollmer, der Ehegatte und Vater, stand selbst am Elektroherd und bereitete die Speise für den heutigen Abend, den Heiligen Abend, vor. Er hantierte eifrig und geschickt mit Töpfen und Pfanne. Hanna Vollmer, die Ehefrau und Mutter, machte sich noch im Wohnzimmer zu schaffen, hängte noch die letzten Dekorationen an den Weihnachtsbaum, ordnete die Geschenke und kam immer wieder in die Küche gelaufen, um ein Messer, eine Schere oder was sie sonst zu ihrer Arbeit brauchte, zu 
holen.

Die beiden Kinder, Kurt, 6 Jahre alt, der immer noch Kurtchen genannt wurde, ein quirliger aufgeweckter, manchmal etwas altkluger Junge und Birgit, 14 Jahre alt, oft etwas schnell mit ihren Worten, hatten von den Eltern die Erlaubnis bekommen, Plätzchen zu backen und waren dabei, Teig auszurollen, wobei beide nicht immer der gleichen Meinung waren, wie die Arbeit vonstatten gehen müsse.

Vater Leopold war gerade dabei, eine Soße abzuschmecken, nahm das Salzfass, griff vergeblich hinein und rief ziemlich lautstark, da sich seine Frau noch im Wohn­zimmer befand: "Hanna, wo ist das Salz?" "Das Salz," rief diese zurück, "ist natürlich im weißblauen Salzfass." " Das weiß ich!" "Und warum fragst du dann?" "Weil das Salzfass leer ist." "Dann steht ein neues Paket hinter der rechten Türe des Hängeschrankes."

Daraufhin öffnete Vater Vollmer die besagte Türe, schob einige Tüten und Dosen hin und her und rief: "Da ist kein Salz, Hanna!" "Aber Leopold, es muss doch da sein, warte, ich komme und sehe selbst nach." Damit kam Mutter Vollmer in die Küche, zog die rechte Türe des Hängeschrankes auf, schob ebenfalls einige Tüten und Dosen hin und her, aber offensichtlich auch ohne Erfolg.

"Dann muss ich es wo anders hingestellt haben," murmelte sie leise vor sich hin und begann, sämtliche Schranktüren nacheinander zu öffnen und jeden Winkel des Schrankes abzusuchen.Schließlich gab sie resigniert auf, ließ die Arme hängen und erklärte: "Dann muss ich wohl doch vergessen haben, Salz einzukaufen, oder ich habe es an der Kasse 
liegengelassen."

Vater Vollmer hatte dem Treiben seiner Frau mit wachsender Ungeduld zugesehen und nach ihrer abschließenden Äußerung fragte er ungläubig: "Soll das heißen, dass wir überhaupt kein Salz im Hause haben?" "Ja, das soll und muss es leider heißen, aber das ist doch sicher kein Weltuntergang, oder?" fragte Frau Vollmer nun auch leicht gereizt. 
"Ein Weltuntergang ist es nicht," ließ sich ihr Mann vernehmen, " aber ist dir bewusst, was das bedeutet? Heute ist Heiligabend, 15 Uhr, die Geschäfte sind seit zwei Stunden geschlossen. Der Heilige Abend fällt in diesem Jahr auf einen Donnerstag, Morgen ist der 1. Weihnachtsfeiertag und Freitag, übermorgen ist der 2.Weihnachtstag und Samstag. Dann folgt logischerweise ein Sonntag und daraus folgt, dass wir erst am Montag, also in dreieinhalb Tagen, Salz kaufen können.

Und das bedeutet wiederum, dass wir alle Speisen für die Feiertage salzlos genießen müssen!" Bei dem Wort "genießen" hatte Herr Vollmer die Stimme spöttisch gehoben. Da er zudem die letzten Sätze lauter, als sonst üblich im Hause Vollmer, gesprochen hatte, waren auch die Kinder aufmerksam geworden und hatten zugehört.
"Mutti, wie schmeckt denn Essen ohne Salz?" wollte Kurtchen wissen. Bevor diese antworten konnte, mischte sich Birgit ein: "Ich habe vor kurzem Mutti einmal beim Kochen geholfen und vergessen, die Suppe zu salzen, das schmeckt nach nichts, laff und fad, kaum zu genießen."

"Ich will aber kein laffes und fades Weihnachtsessen," maulte Kurtchen und verzog weinerlich das Gesicht. Aber plötzlich hellte sich seine Miene auf und er rief: "Wir können uns doch Salz borgen. Vorige Woche habe ich für Mutti bei Lehmanns auch eine Tasse Zucker geliehen, die habe ich später zurückgebracht." "Mein Sohn," sagte Vater Vollmer mit gespieltem Stolz, "löst die schwierigsten Probleme im Handumdrehen. dass wir nicht sofort darauf gekommen sind. Birgit, gehe du doch rasch einmal zu Lehmanns rauf." "Das geht leider nicht," ließ sich die Mutter vernehmen. "Lehmanns sind bereits heute morgen zu ihren Kindern gefahren."

"Nun, ich denke, dann können wir auch zu Lindners gehen," meinte der Vater. "Auch das geht nicht," warf die Mutter wieder ein, "die verbringen diese Weihnacht sogar auf Mallorca und sind schon vor drei Tagen abgereist."

Nach dieser Erklärung trat ein ratloses Schweigen ein, bis Kurtchen sich wieder meldete. "Dann können wir doch zu Frau Siemer gehen." Nach diesem Vorschlag trat ein peinliches Schweigen ein, bis endlich Mutter Vollmer erklärte: "Zu Frau Siemer können wir nicht gehen, mit ihr sprechen wir doch nicht." 

"Warum sprechen wir eigentlich nicht mit ihr, Mutti," fragte Kurtchen unbefangen zurück. "Ich könnte das gar nicht aushalten, solange nicht mit euch zu sprechen. "Das ist etwas ganz anderes," warf der Vater ein, " außerdem ist die ganze Sache ja nur wegen euch Kinder gekommen." "Aber nicht meinetwegen," empörte sich Kurtchen. "Nein, da hast du Recht," bestätigte ihm der Vater, aber wegen Birgit." "Ach, jetzt bin ich wohl auf einmal alleine schuld?" fragte Birgit empört. "Dabei warst du doch genauso beteiligt," wandte sie sich an ihren Vater.

"Ich meine, jetzt geht es nicht um Schuldzuweisungen. Außerdem bin ich nie richtig dahinter gekommen, was damals wirklich vorgefallen ist," meinte die Mutter sehr ruhig. "Also, wie war das damals?" "Wie soll es schon gewesen sein," begann Birgit widerwillig. "Ich kam an dem Tag aus der Schule und ging singend über den Hausflur. Plötzlich öffnete sich die Türe, und Frau Siemer kam in den Flur und fuhr mich an, ich solle mein Grölen einstellen, sie habe Besuch und ein Baby schlafe und ich würde so schreien, dass es wach werde. Außerdem würde ich immer Krach auf dem Flur machen und ich solle mich in Zukunft anständig benehmen. Darauf habe ich gesagt, dass der Hausflur allen gehöre und sie gar nichts zu sagen habe, und außerdem gröle ich nicht, sondern singe.

Inzwischen hatte Vati gehört, dass auf dem Flur etwas los war und kam dazu. Und Vati sagte..."
"Was ich gesagt habe," unterbrach dieser seine Tochter, "weiß ich selbst. Ich habe gesagt, dass sie meine Kinder nicht anschreien soll, worauf sie meinte, ich solle lieber dafür sorgen, dass meine Kinder richtig erzogen würden, Birgit sei eine freche Göre. Ich war natürlich sehr wütend und sagte darauf: Und sie sind..., ich suchte noch nach Worten, um nicht zu aggressiv zu antworten, da fiel Birgit mir ins Wort und sagte: Sie sind eine böse alte Frau. Ja, und da hat sich Frau Siemer umgedreht und ging in ihre Wohnung, und seitdem sprechen wir nicht mehr miteinander. Und nun können wir natürlich auch nicht zu ihr gehen."

Nach dieser Schilderung blieb es einige Augenblicke sehr still in dem Raum. Wieder war es Kurtchen, der als erster sprach: "Und wenn wir uns mit ihr vertragen?" fragte er leichthin, "schon wegen dem Salz."

"Es geht gar nicht mehr um das Salz," erklärte Frau Vollmer nachdenklich." Es geht um etwas ganz Wesentliches.
Es ist Heiligabend. Wir haben äußerlich alles zum Fest des Friedens und der Freude vorbereitet. Aber wie sieht es innerlich bei uns aus? Da sitzt die alte, einsame Frau allein in ihrem Zimmer, und die einzigen Personen, die außer ihr im Haus sind, haben Unfrieden mit ihr. Wir feiern das Fest der Geburt des Christus, der in die Welt gekommen ist, um Versöhnung zwischen Gott und Mensch zu bringen und wir Menschen halten keinen Frieden untereinander. Der Junge hat ganz recht, wir sollten uns mit Frau Siemer versöhnen." 

"Mutter ist eine richtige Predigerin," sagte Herr Vollmer und seine Stimme klang gar nicht spöttisch. "Mutter," meinte er, "du und der Junge, ihr habt Recht. Wir sollten nicht länger mit Frau Siemer in Unfrieden leben. Am besten gehst du sofort zu ihr und regelst das."

"Nein," erklärte diese entschieden, "ihr habt den Unfrieden heraufbeschworen, ihr müsst den Frieden auch wieder herstellen," wobei sie abwechselnd ihren Mann und Birgit fest in die Augen blickte. "Im übrigen hast du Recht, Vater Vollmer," sagte sie mit einem kleinen Lächeln, "ihr solltet das sofort erledigen, dann feiern wir Heilig Abend."
Herr Vollmer sah zu seiner Tochter herüber, nickte ihr zuerst zu, streckte dann seine Hand aus als Geste, dass sie zu ihm kommen solle, fasste sie bei der Hand, und beide verließen das Zimmer, um zu Frau Siemer zu gehen. Hier endet unsere Geschichte von der Familie Vollmer.

Ich könnte mir denken, dass manch einer erfahren möchte, wie die ganze Sache ausgegangen ist, wie die beiden Reumütigen ihr Anliegen vorgetragen haben, wie Frau Siemer reagiert hat, und ob es tatsächlich zu einem friedvollen Miteinander gekommen ist.

Aber das erfahren wir nicht mehr. Denn allein wichtig ist, dass Menschen zu der Einsicht gekommen sind, hinzugehen, um Frieden zu stiften. Das allein ist wichtig, nicht, wie die Sache ausgegangen ist. Der Apostel Paulus schreibt: soviel an euch liegt, habt mit allen Menschen Frieden.

Und wenn diese kleine Geschichte dazu beiträgt, jemanden zu motivieren, hinzugehen um Frieden zu stiften, ohne an die Aussicht auf Erfolg zu denken, dann würde aus der kleinen Geschichte eine große, gottwohlgefällige Tat.

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