Der Soldat
oder
Liebet eure Feinde


Es gab Momente, wo er den Eindruck hatte, dass er keines wirklich tiefen Gefühls mehr fähig sei. Der Krieg hatte zu viel zerstört. Dreieinhalb Jahre Krieg, davon fast immer an der vordersten Front, hatten ihn zu viel Grauenvolles erleben lassen. Gleich zu Kriegsbeginn, im September 1914, war er einberufen worden, hatte seine Frau und seine damals 14 Jahre alte Tochter in der Ungewissheit zurücklassen müssen.

Wie viele Kameraden hatte er in dieser Zeit sterben sehen. Ihre Schmerzensschreie hörte er oft in seinen Träumen. Wie viele zerschossene Körper, wie viel Blut und Tränen hatte er gesehen! Er selbst war zweimal leicht verwundet worden und hatte 12 Stunden durch einen Granateinschlag verschüttet in einem Unterstand gelegen. 'Wenn man da in seinen Gefühlen nicht abstumpft, hält man es nicht durch' hatte er sich oft genug gesagt.

So hatte Oskar Lafonte' es ohne innere Bewegung aufgenommen, dass er dem Stoßtrupp zugeteilt worden war, obwohl er wusste, dass dieser Einsatz genau das war, als was er unter den Soldaten bezeichnet wurde: ein Himmelfahrtskommando. Schon lange war es in diesem Frontabschnitt, wie fast überall im französischen Kampfgebiet, zu einem erbitterten Stellungskrieg gekommen. Beide Kriegsparteien hatten sich in einem umfangreichen Schützengrabensystem verschanzt. Die Stellungen lagen kaum zweihundert Meter auseinander. An den wenigen ruhigen Tagen drangen manchmal, wenn der Wind günstig stand, französische Wortfetzen zu den deutschen Stellungen hinüber.
Meist herrschte aber lebhaftes Feuer von beiden Seiten und die Verluste waren an manchen Tagen beträchtlich. Die Franzosen hatten sich vor einem Waldstück eingegraben, das inzwischen schon fast ganz dem Beschuss zum Opfer gefallen war. Hinter dem Waldstück befand sich eine kleine Anhöhe, die den Blick hinter die feindlichen Linien versperrte. Nun ging das Gerücht, dass die Franzosen einen Panzerdurchbruch an diesem Frontabschnitt planten. Der Stoßtrupp sollte erkunden, ob sich hier zu Anhaltspunkte finden ließen, um eine entsprechende Abwehr planen zu können. 

Die Heeresleitung hatte deshalb angeordnet, dass die feindlichen Stellungen in einem Abschnitt von etwa einem halben Kilometer zwölf Stunden lang mit heftigen Artilleriefeuer belegt werden sollten, so dass man nach menschlichen Ermessen davon ausgehen konnte, dass sich in diesem Abschnitt kein lebender Franzose mehr aufhalten dürfte. Das Feuer sollte am nächsten Tage gegen zehn Uhr aufgenommen werden und bis zum Einbruch der Dunkelheit fortgesetzt werden. Gegen Mitternacht sollte der Stoßtrupp dann durch die feindliche Linie dringen. Die Soldaten, die dem Stoßtrupp zugeteilt worden waren, erhielten einige Vergünstigungen in Bezug auf Schonung, Verpflegung und Zuteilung von Alkohol. Oskar Lafonte' war das gar nicht so recht. 'Man kommt dann nur zu viel ins Nachdenken' erklärte er.

So war es auch am Einsatztag. Seine Gedanken gingen immer wieder zurück, zu seiner Familie und in die Vergangenheit.

Als er im Jahre 1900 seine Frau geheiratet hatte, schien die Welt noch in Ordnung. Niemand hätte einem Krieg für möglich gehalten. Als bald darauf ihr erstes und einziges Kind, eine Tochter, geboren wurde, hätten sie nie geglaubt, dass sie einmal so lange getrennt sein würden und so viel Schweres würden erleben müssen. 

Er selbst hatte Fremdsprachen studiert, englisch und französisch, und hatte eine gut bezahlte Anstellung in einem Import und Export Unternehmen innegehabt und die französische Abteilung geleitet. Von daher sprach er französisch fast so gut wie seine Muttersprache. Aus beruflichen Gründen hatte er auch einige Male Paris und Lyon besucht. Aber nicht nur aus beruflichen Gründen hatte er eine besondere Beziehung zu diesem Land. Sein französisch klingender Name hatte ihn dazu veranlasst, in seiner Ahnentafel zu forschen. Dabei hatte er festgestellt, dass seine Vorfahren zu den Re'fugie's, den Flüchtlingen der Hugenotten, gehört hatten, die um 1685 um ihres Glaubens willen Frankreich verlassen hatten und nach Deutschland ausgewandert waren. Besonders in der ersten Zeit war es ihm sehr schwer gefallen, in den Franzosen plötzlich seine Feinde zu sehen.

Gegen 23 Uhr trat der Stoßtrupp zusammen, nachdem das stundenlange Artilleriefeuer endlich verstummt war. Ein Leutnant leitete die Aktion. Die letzten Anweisungen bekamen sie vom Hauptmann persönlich.
"Soldaten," begann er seine Ausführungen, "ihr müsst wissen, dass dieser Stoßtrupp eine überaus wichtige Unternehmung für die siegreiche Fortführung dieses Krieges ist. Wenn der Feind wirklich Tanks hinter der Front auffahren lässt und der Heeresleitung dies durch die Aktion des Stoßtrupps bekannt wird, können wir wirksame Abwehrmaßnahmen treffen. Sonst würde uns die Tanks überrollen. Sind sie äußerst vorsichtig. Wir hoffen alle, dass es zu keiner Feindberührung kommt und die ganze Aktion lautlos vor sich geht. Jeder Schuss, jedes laute Geräusch könnte den Erfolg infrage stellen. Sollte es aber dennoch zur Feindberührung kommen, gilt ein absoluter Befehl: Es dürfen keine Gefangenen gemacht werden! Sollten ihnen französische Soldaten in die Hände fallen, sind diese unter allen Umständen sofort zu liquidieren. Wenn möglich, lautlos. Sie alle wissen, wie man mit einem Gewehrkolben oder einem Bajonett umgeht. Soldaten, tut euer Bestes."

Kurz vor Mitternacht brach der Stoßtrupp auf. Es war eine warme Sommernacht im Juni 1918. Der Himmel war bewölkt, der zunehmende Mond stand mit einer schmalen Sichel am Himmel. Nur manchmal, zwischen zwei Wolkenfeldern, warf er sein bleiches Licht über die Landschaft. Das zerschossene Gelände sah dann gespenstig und furchterregend aus. Meist aber herrschte Dunkelheit. Schon nach wenigen Minuten war der Stoßtrupp an die feindliche Linie gekommen, wo sich ein unerwartetes Hindernis in den Weg stellte: ein Stacheldrahtverhau. 
Die Artillerie hatte zielgenau die Schützengräben beschossen, aber nicht den vorgelagerten Drahtverhau zerstört. Es dauerte einige Minuten, bis ein entsprechend großes Loch hineingeschnitten worden war, durch das die Soldaten einzeln hindurchkriechen konnten.

Lafonte' war beordert worden, als Letzter in der Reihe zu bleiben. Als er durch den Verhau kroch, merkte er plötzlich, dass sich sein Koppel im Stacheldraht verhakt hatte. Alles Zerren und Reißen befreiten ihn nicht aus seiner Lage. 
Er wagte nicht, die Kameraden anzurufen, weil jedes Geräusch sie hätte verraten können, da nicht ausgeschlossen werden konnte, dass sich doch noch Franzosen in der Nähe befinden würden. Es dauerte etliche Minuten, bis er sich befreien konnte. Mit hastigen Schritten, in gebückter Haltung, versuchte er seine Kameraden einzuholen, die längst in der Dunkelheit verschwunden waren.

Er vermochte das Gelände kaum zu erkennen, da der Mond wieder hinter den Wolken stand. Er hatte Mühe, zwischen den tiefen Granattrichtern und dem aufgewühlten Gelände zu unterscheiden. Plötzlich stolperte er über ein am Boden liegendes Hindernis, eine Baumwurzel oder etwas Ähnliches, verlor den Halt und fiel, aber nicht auf die Bodenoberfläche, sondern etwa 1,50 Meter tief, in einen noch erhalten gebliebenen Teil eines Schützengrabens. Er war so unglücklich auf sein eigens Gewehr gefallen, dass er einen Augenblick ganz benommen war und keinen klaren Gedanken fassen konnte. Endlich kam er wieder zu sich und richtete sich etwas auf, als er vor sich ein leises Stöhnen hörte, und dann eine Stimme:
"Camarade" xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx
("Kamerad, gut das du kommst, hilf mir, mich hat es arg erwischt.")

Er war im ersten Augenblick wie erstarrt. Vor ihm, das war außer Zweifel, lag ein verwundeter französischer Soldat. Seine Gedanken begannen fieberhaft zu arbeiten. Was sollte er tun. Vor ihm lag ein Franzose, ein Feind! Aber ein Feind, der verwundet, hilflos war. Unter normalen Umständen hätte er ihn als Gefangenen zu den deutschen Linien gebracht, wo er hätte versorgt werden können. Aber sein Befehl war eindeutig: Keine Gefangenen machen. "Sie alle wissen, wie man mit einem Gewehrkolben oder einem Bajonett umgeht," war ihm die Stimme des Hauptmanns im Ohr. 
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("Kamerad hilf mir,") ließ sich erneut der gegnerische Soldat mit schwacher Stimme vernehmen.)

In diesem Augenblick gaben die Wolken die Mondsichel frei und beleuchteten das ungewöhnliche Szenarium. Lafonte' hatte sich gerade dem Franzosen genähert, sich über ihn gebeugt und sah nun, im fahlen Mondlicht ein Gesicht, das Gesicht eines blutjungen Mannes, fast noch ein Kindergesicht , vielleicht gerade 20 Jahre alt. Er hatte die Augen geschlossen und stöhnte leise.

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("Kamerad, ich helfe dir!") antwortete Lafonte' ohne zögern und war froh, die französische Sprache so gut zu beherrschen. Mein Gott, fuhr es ihn durch den Sinn, solch ein junger Mensch, es könnte mein Sohn sein, meine Tochter ist fast im gleichen Alter. Vielleicht sein erster Einsatz und schon dies unrühmliche Ende. 

Er könnte den jungen Franzosen hier einfach seinem Schicksal überlassen. Wahrscheinlich würde er es dann nicht mehr lange durchhalten. Außerdem bestand die Gefahr, dass er sich doch irgendwie bemerkbar machte und die Franzosen dadurch auf den Stoßtrupp aufmerksam würden und das Leben seiner Kameraden in Gefahr geriet.
Der Mond verkroch sich wieder hinter den Wolken und Lafonte' holte seine Taschenlampe hervor und besah die Wunde. Es war eine große Fleischwunde am rechten Oberschenkel, die stark blutete. Wenn nicht sofort geholfen würde, wäre der junge Mann in kurzer Zeit verblutet. 

Lafonte' hatte ähnliche Verwundungen des öfteren gesehen und kannte sich in erster Hilfe aus. Zunächst band er das Bein ab, um die Blutung zu stillen, dann verband er notdürftig die Wunde. Der Mond hatte sich inzwischen wieder hinter den Wolken hervorgewagt und erleichterte die Tätigkeit des deutschen Soldaten. Der Franzose hatte bis zu diesem Zeitpunkt fast immer die Augen geschlossen gehalten und nicht erkannt, wer ihm half. Jetzt, nachdem er behandelt und versorgt war, ging es ihm offensichtlich besser, er versuchte sich aufzurichten und seinen Helfer anzusehen. In diesem Augenblick traf das Mondlicht voll den deutschen Soldaten. Der junge Franzose riss entsetzt Augen und Mund auf, als ob er schreien wollte, wozu ihm aber offensichtlich die Kraft fehlte. An der Uniform hatte er erkannt, dass ein deutscher Soldat sein Helfer war.

"Sei nur ganz ruhig , mein Junge," sprach ihn Lafonte' in französischer Sprache an. "Ich bin ein Deutscher, ja! Aber ich habe dir nicht geholfen um dich anschließend umzubringen oder dich hier hilflos liegen zu lassen, damit du letztlich doch noch umkommst. Nun hör einmal gut zu mein lieber junger Franzose, ich sage dir jetzt, was wir machen werden. Normalerweise müsste ich dich jetzt als Gefangenen zu den deutschen Stellungen bringen. Aber das geht nicht. Bleibe ganz ruhig, ich weiß genau, was ich tun werde. Du hilfst mir, so gut du kannst. Übrigens, wie heißt du?" "Andre" antwortete der junge Soldat.

"Ein guter französischer Name," meinte der Deutsche. "So und nun beißt du die Zähne zusammen, auch wenn es weh tut: keinen Ton!. Sonst kann ich nicht dafür garantieren, dass wir heil hier herauskommen." Er wartete, bis der Mond sein Licht wieder hinter den Wolken verbarg.

Mit großer Mühe gelang es ihm dann, den jungen Mann aus dem Schützengraben zu hieven und selbst hinaufzusteigen.
Im Schutze der Dunkelheit , so vorsichtig wie möglich, hob er den jungen Soldaten, der leise stöhnte, auf seinen Rücken. "Er muss in den nächsten Stunden ärztlich behandelt werden, sonst ist diese junge Leben trotz allem dahin," murmelte der Deutsche leise vor sich hin und war unwillkürlich wieder in seine Muttersprache verfallen.
Dann ging er, mit seiner schweren Last mit langsamen und vorsichtigen Schritten auf das französische Hinterland zu.
Vielleicht, dachte er, habe ich mein Vaterland verraten, aber die Humanität, die Menschlichkeit und die Feindesliebe der Bibel sicherlich nicht. Unbehelligt verschwand er mit seiner Last in der Dunkelheit. 

25. August 1920: Andre Lefre und Christin Lafonte' geben sich in einer kleinen französischem Dorfkirche das "JA"-Wort.

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